"Vive l'Armée!", Superamas im Tanzquartier
Vive l’Armée“ nennt Superamas ihre Auseinandersetzung mit Krieg, Terrorismus und den Folgen. Die neueste Produktion ist nach gründlicher Recherche undöffentlichen Einblicken in den Arbeitsprozess entstanden. Eine aufwühlende auch niederdrückende Performance, die im Tanzquartier ganz harmlos und unterhaltsam mit einer Modeschau beginnt, aber bald Angst und Zittern hervorruft. Erst nachdem sich die in grellen Farben gemalten Schreckens-Visionen wieder verflüchtigt haben, kann der verdiente Applaus gespendet werden.
Ausgangspunkt für die Überlegungen der französisch-belgischen Formation Superamas ist der 1. Weltkrieg (191–1918), der tatsächlich ein weltweiter Krieg war und als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ gilt. Superamas denkt aber noch weiter zurück, hängt an die hintere Wand das berühmte Bild aus dem Louvre von Eugène Delacroix von 1880, „Die Freiheit führt das Volk“. In dem Riesenschinken, 2,8 x 3,25 m, zeigt der Maler, die Julirevolution 1830, als das Volk in einem dreitätigen blutigen Aufstand, die Herrschaft der Bourbonen stürzte, um selbst die Macht zu übernehmen.
Das Symbol der Freiheit aus der französischen Revolution, Marianne, stöckelt auch über den Catwalk im vom persönlich anwesenden Jean-Paul Gautier entworfenen Kostüm. Der selbst ganz in Silber gehüllte Designer setzt seinen Models Stahlhelme auf, hüllt sie ins Blau-Weiß-Rot der französischen Fahne, bindet ihnen Patronengürtel um und lässt sie in kurzen Höschen und High-Heels über den glitzernden Laufsteg schwanken bis das Blitzlickt der Kameras belndet. Die Show ist noch lange nicht zu Ende, Jean-Paul muss vors Mikrofon, doch da kracht in die sorglose Fernseh-Gesellschaft ein Schuss, Rebellen sprengen die Veranstaltung, nehmen das Seitenblicke-Publikum als Geiseln.
Wir befinden uns im Jahr 2020 und der Staat ist längst selbst zum Terroristen geworden, die Todesstrafe ist wieder eingeführt, die Überwachung ist total und die Angst wird geschürt, damit dem Volk eingeredet werden kann, nur der Staat könne es beschützen. Die Demokratie ist tot, es lebt der Sicherheitsstaat. Ob die Eindringlinge nun echte Terroristen sind oder nur mit Spielzeugwaffen fuchteln, weil sie genau dagegen protestieren, gegen den Sicherheitsstaat, der die Angst schürt, weil er auf sie gegründet ist, ist der Polizei egal. Sie geht mit aller Härte vor. Das Gehirn einzusetzen oder gar Gefühle zu zeigen, hieße Machtverlust.
Die live gespielten Szenen mit Modenschau im Louvre in Paris und Geiselnahme sind nur ein Strang der Performance. Wie bei Superamas gewohnt, werden sämtliche Medien eingesetzt, Liveaction mischt sich mit Videofilmen, Filmausschnitten, den Statements eines Historikers und den dokumentierten Workshps mit den Schülerinnen. Facts und Fiction fließen nahtlos ineinander.
Der technische Aufwand ist enorm, doch es funktioniert alles wie am Schnürchen und die gute Stunde läuft abwechslungsreich und ebenso schreckensreich ab. So weit ist 2020 nicht mehr entfernt. Schon nächstes Jahr wird in Frankreich neu gewählt.
Superamas hat die Folgen des „Grande Guerre“ (für Frankreich der Krieg der Kriege) einfach weitergedacht und als Dystopie gezeigt, wie sich der Staat (oder die Mächtigen und Machtgierigen) den Terrorismus zunutze macht. Wie leicht sich Menschen manipulieren und verhetzen lassen, ist die erschreckende (aber gar nicht neue) Erkenntnis.
Zum Trost und zur Erholung für die Verstörten im Publikum gibt es einen traumhaften Schluss, eine eigens komponiertes sanftes Lied, das das Grauen für kurze Zeit neutralisiert, Zeit gibt, zu registrieren, dass alles nur ein Spiel ist – noch – und es ermöglicht, sich bei dem diesmal erweiterten Team enthusiastisch zu bedanken.
Superamas: „Vive l’Armée!“, multimediale Performance. Auf der Bühne: Teresa Acevedo, Agatha Maskiewicz, Agnieszka Ryszkiewicz, Superamas. 24.11.2016.
Weitere Vorstellungen: 25., 26.11. 2016, Tanzquartier.