Kammeroper: „Carmen“ komprimiert
Zwei Sängerinnen, zwei Sänger, einen Tänzer und drei Musiker genügen, um die Geschichte der freiheitsliebenden Carmen auf der Bühne zu zeigen, ohne den Komponisten der gleichnamigen Oper, Georges Bizet, zu verletzen. Inszeniert von Andreas Zimmermann, musikalisch arrangiert von Tscho Theissing, ergötzt dieses Gustostückerl das begeisterte Publikum in der schmucken Kammeroper.
Keine Aufregung! Georges Bizets „Carmen“, nach der gleichnamigen Novelle von Prosper Merimée entstanden, zu verändern, einzudampfen, zu verjazzen oder rockig flockig zu tanzen und zu musizieren, ist kein Sakrileg. Hat es doch eine ziemliche Weile gedauert, bis das Werk (mehrmals überarbeitet) seinen Siegeszug um die Welt angetreten hat. Bizet hat den Triumpf nicht mehr genießen dürfen. Er ist mit nur 36 Jahren, kurz nach der Uraufführung 1875 in Pars, gestorben. Erst die vollständig durchkomponierte Wiener Fassung, von Gustav Mahler eingeführt, eroberte (nach der zurückhaltend aufgenommenen Premiere 1900) die Opernhäuser der Welt.
Schon 1909 entstand der erste „Carmen“-Film. Stumm natürlich und nur 10 Minuten lang. Die zahlreichen Variationen die seither und Benutzung sämtlicher Medien zu sehen waren, sind kaum aufzuzählen. Unvergessen ist Otto Premingers Film „Carmen Jones“ (1954), ausschließlich mit schwarzen Darsteller_innen gedreht. Dorothy Dandridge spietle Carmen, Harry Belafonte war Joe. Gesungen haben ausgebildete Sänger_innen im Off.
1967 hatte in Moskau Rodion Schtschedrins Bearbeitung der Bizetschen Komposition als Ballett Premiere und schließlich muss auch Peter Brooks Variatiante der Oper genannt werden. 1981 ist die Text-Musik-Collage „La Tragédie de Carmen" entstanden. Eine intensive, intime Dreiecksgeschichte (Carmen-José-Michaela), auf dem sandigen Boden einer Arena gespielt und auch in Wien mit überragendem Erfolg gezeigt.
Auch die aktuelle Aufführung ist nicht die erste gewendete „Carmen“ in der Kammeroper. Schon unter der Direktion von Hans Gabor wurde – auf Wunsch des Publikums (sic!) – die Opéra comique „Carmen“ zu „Carmen Negra“ verrockt. Diese Weisheiten verdanke ich Martin Gassner, der die „Carmen-Variationen“ für das mit verständlichen Originalbeiträgen rundum bestens gestaltete Programmheft der aktuellen Aufführung zusammengestellt hat.
Jetzt macht sich also ein ungewöhnliches Trio (Georg Breinschmid, Kontrabass; Sebastian Gürtler, Violine; Tommaso Huber, Akkordeon) auf der Bühne, mal rechts, mal links bemerkbar, spielt mit, mischt sich drein, kommentiert mit Ironie und Wiener Schmäh. Manche musikalischen Einwürfe, mancher schrille Ton der Geige, manches Gebrumm des Basses scheinen, der Abendverfassung angemessen, improvisiert. Das Publikum versteht und bedankt sich mit leisem Lachen.
Zimmermann kommt ohne spanisches Kolorit aus, lässt ein altes Auto auf einem Schrottplatz irgendeiner Vorstadt – oder doch Wien, Im Hintergrund dreht sich ein Riesenrad – stehen, auf dessen Dach Natalia Kawalek barfuß im roten Fetzen tanzt, als wäre sie einem Film von David Lynch entsprungen. Ein „wildes Herz“ hat sie tatsächlich Kawaleks Carmen und es scheint, als läge ihr tatsächlich einiges an dem teigigen José. Kawalek ist eine gierige, stolze, sinnliche Carmen, dass sie sich ausgerechnet in diesen lahmen Polizisten verliebt, muss wundern. Thomas David Birch spielt große Oper (an der Rampe), aber keinen José. Da ist der fesche Tobias Greenhalgh mit seinem wohlklingenden Bariton ein anderes Kaliber. Ein echter Escamillo, der sich seiner Carmen sicher ist, auch wenn die Liebe nur ein paar Monate dauert. Viktorija Bakan ist eine gar nicht so schüchterne Micaëla, die sich mit Carmen auf ein heftiges Gerangel einlässt, mit ihrer hellen Sopranstimme jedoch im Einklang ist.
Der Schweizer Tänzer Felix Duméril hat die stumme, einiges an Akrobatik erfordernde Rolle von Zuniga, Josés Chef und Rivalen, übernommen und auch die lebendige Gesamtchoreografie der beiden Akte gestaltet. Regisseur Zimmermann liebt es drastisch: Der stets besoffene Zuniga versucht Carmen zu vergewaltigen und wird später von José ebenso brutal ermordet. Auch das Ende trieft vor Blut und hasserfüllter Grausamkeit. José massakriert die Geliebte regelrecht. Da bleibt der Schmäh und auch die Rufe aus der Arena im Halse stecken. Carmens Schicksal erfüllt sich in der Kammeroper in absoluter Stille.
Erst nachdem das Entsetzen verflogen ist, tost der Applaus.
„Carmen“, nach der Opéra comique in vier Akten von Georges Bizet, musikalisch neu gefasst und einstudiert von Tscho Theissing, Libretto von Henri Meilhac & Ludovic Halevy. In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln. Gesehen am 6. März 2016, Theater an der Wien in der Kammeroper. Weitere Vorstellungen bis inklusive 9. April.