Was von alten Jahren übrig blieb
Jänner 2025: Die neue Literaturliste ist noch leer, die alte aber hat noch Lücken, ziemlich tiefe sogar, die berichtend gefüllt werden müssen. Drei ältere Werke, die wegen ungebrochener Aktualität noch nicht im Ausgedinge sind, sollen hier zu Ehren kommen.
Ein Beginn mit einem Buch, das bereits etwas zerlesen ist, so oft es verborgt und auch selbst gelesen worden. Ein anderer Takt von William Melvin Kelley ist bereits 2019 erschienen, doch viel zu wenig beachtet worden. „Der vergessene Gigant der amerikanischen Literatur“, nennt The New Yorker den Autor. Kelley (1937–2017) erzählt die Geschichte vom schwarzen Farmer Tucker Caliban, der im Sommer 1957 Salz auf seine Felder streut, sein Vieh erschießt und mit seiner schwangeren Frau die kleine Stadt Sutton verlässt. Daraufhin beginnt ein allgemeiner Exodus, sämtliche farbigen Familien verlassen die Stadt. Der Autor schildert die Ereignisse aus der Sicht der weißen Gesellschaft, die für ihn aus Männern besteht. Rassisten kommen ebenso zu Wort, wie liberal Gesinnte. Es ist nur eine Frage der Zeit bis sich das Gemisch aus Desorientierung, Wut und Verzweiflung entlädt. Kelley erzählt mitfühlend und oft auch sarkastisch eine Geschichte vom längst nicht beendeten Kampf der Afroamerikanerinnen für Gleichheit und Gerechtigkeit. Dem Verlag ist zu danken, dass die Originalzitate der sich unterhaltenden Figuren auch in ihrem krassen Rassismus erhalten geblieben und N- und andere tabuisierte Wörter nicht eliminiert worden sind. Das macht den zurecht mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Debütroman überaus lebendig und ehrlich. Der Originaltitel, A Different Drummer, bezieht sich auf eine Gedichtzeile von Henry David Thoreau (1817–1862): "Wenn ein Mann mit seinen Gefährten nicht Schritt hält, dann vielleicht, weil er einen anderen Schlagzeuger hört...“
Mehrere Generationen umfasst der autobiografisch grundierte Roman n des kurdischen Autors Yavuz Ekinci, der 1979 in der türkischen Provinz Batman geboren ist. An dem Buch Das ferne Dorf meiner Kindheit hat Ekinci 15 Jahre gearbeitet. Er beginnt mit der Kindheit des kleinen Rüstem, der das Leben im Dorf aus seiner Sicht erzählt. Doch dann bricht der Krieg in das Dorf ein, Unterdrückung und Brutalität bestimmen nun ein Leben in Angst. Im zweiten Teil wechselt der Autor die Perspektive, die innere Stimmer der langsam dahinsiechenden Großmutter ist zu hören. Die Erinnerungen dieser Großmutter, die den Genozid an den Armenierinnen überlebt hat, sind blutig und voller Grausamkeiten. Ekinci schont die Leserinnen nicht, er erzählt hart und realistisch, sodass ich mich immer wieder davonstehle, um in der Lesepause die Fakten zu überprüfen und die vergangenen 120 Jahre und mehr in der Geschichte der Türkei, Armeniens und der Kurden zu erforschen. Die starken Bilder, die der Autor mit schwarzem Pinsel malt, sind nicht so rasch zu vergessen.
Gefesselt hat mich auch die Lebensgeschichte von Lady Mary Wortley Montague (1689–1762), die von einem Aufenthalt im osmanischen Reich ein frühes Impfverfahren gegen die verheerende Pockenerkrankung nach England brachte. Lady Mary, Gattin eines Diplomaten, hat als jung Frau selbst eine Pockeninfektion überlebt. Durch die Narben verunstaltet, wagte sie sich nicht mehr in die Öffentlichkeit. In Konstantinopel jedoch, wo sie niemand kannte, ging sie wieder aus und lernte einen Arzt kennen, der die Pockenerkrankung mit Pockenviren (Lebendimpfstoff) erfolgreich bekämpfte. Lady Mary ließ ihre Kinder impfen und setzte sich nach der Rückkehr in England für die Verbreitung der Impfung ein. Paula Bellheim erzählt in ihrem Debütroman Die Impfpionierin. Lady Mary Montague vom steinigen Weg, den die Schriftstellerin und frühe Feministin konsequent gegangen ist, um mit Hilfe der Princess of Wales, Caroline von Brandenburg-Ansbach (1683–1737), Ehefrau des späteren Königs Georg II. von Großbritannien. Gemeinsam gelang es den beiden Damen, König Georg I., nicht gerade ein Erneuerer, zu überzeugen, seine Enkelkinder inoculieren zu lassen. Bellheim hat mehr als den übliche, gern verachteten Frauenroman geschrieben. Flüssig und ohne Schmalz erzählt sie ein Stück Medizingeschichte und von einer Frau, deren Talente und Verdienste zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind. Auch Männern sei dieser interessante und bestens recherchierte Roman wärmstens empfohlen.
William Melvin Kelley: Ein anderer Takt, aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren. 304 Seiten, Hoffmann und Campe, 2019. € 18,59. E-Book: € 10,99.
Yavuz Ekinci: Das ferne Dorf meiner Kindheit, aus dem Türkischen von Gerhard Maier. 325 Seiten, Kunstmann 2023. € 26,80. E-Book: € 20,99.
Paula Bellheim: Lady Mary Montague. Die Impfpionierin. 414 Seiten, Lübbe, 2023. € 13,40. E-Book: € 9,99