Anne Juren: Heilkunst als Choreografie
Eine musikalisch-choreografische Komposition nennt Anne Juren ihre jüngste Choreografie: WAAM. Matthias Kranbitter hat die, mit dem Komponisten Matthias Kranebitter und dem bildenden Künstler Robert Rauschmeier und den Tänzerinnen ist eine fantastische Choreografie entstanden, die am 28.11. im Rahmen von Wien modern im brut als Premiere gezeigt worden ist.
Manche meinen, Kunst könnte die Welt verändern, Wunden heilen, alles Schiefe wieder gerade biegen und das Böse vernichten. Kunst kann vieles, erfreuen, glücklich machen, zum Nachdenken, zum Lachen und Weinen bringen, aber die Welt aus der Schieflage befreien und zu therapieren, kann sie nicht. Weder mit dem Pinsel noch auf der Bühne kann das gelingen. Die Tänzerin / Choreografin und Feldenkrais-Praktizierende ist nicht die Einzige, die die die Heilkunst mit der Bühnenkunst vereinen will. Auch Linda Samaraweerová, die als darstellende Künstlerin mit allen Meiden arbeitet und immer wieder die Grenzen überschreitet, interessiert sich für die Wirkung der Kunst auf Körper und Geist. Aktuell untersucht sie kulturelle Praktiken, die sich mit der Erweiterung des menschlichen Bewusstseins befassen. Einen Einblick in ihre Arbeit gibt sie ab 14. Dezember im eindorf. Zurzeit aber tritt sie als Therapeutin, Klientin und Tänzerin der Choreografie WAAM im Theatrum anatomicum.
Zu Beginn befinden sich Tänzerinnen und Publikum jedoch im Zeichensaal der Kunstakademie. Ein nackter männlicher Körper liegt, schamhaft mit einem roten Tuch bedeckt, auf dem Tisch, die Zeichnerinnen sitzen mit ihren Blocks um ihn herum. Ich sehe Andrea Mantegnas berühmtes Gemälde Cristo morto. Wie der tote Christus liegt Alex Franz Zehetbauer auf dem Tisch, aus der Zuschauerarena sehe ich ihn perspektivisch verkürzt, die Fußsohlen sind mir näher als der Kopf. Doch die Kunstschülerinnen haben ihre Werke beendet, der Zeichensaal verwandelt sich in ein reales anatomisches Theater. Das Publikum sitzt rund um den Tisch, der Bahre, Operationstisch und Ruhemöbel sein kann. Weiße Objekte sind im Raum verteilt, Roland Rauschmeier hat darin Lautsprecher für Kranebitters gefinkelte Geräuschkomposition verborgen. Aus Gemälden von Rembrandt steigen die Heilerinnen in schwarzen Gewändern und weißen Halskrausen: Der Mann auf dem Tisch erwacht zum Leben, lässt sich behandeln, ist lebendig und gesund, dass er auch als Tänzer im choreografischen Konzert mitwirken kann.
Später bei der Wasserkur, der Ohrenoperation, dem Loch im Kopf und der Musikkur ohne Ton (glitzernde ellenlange Tonbänder rieseln auf den liegenden Körper von Samaraweerová, die Geräusche setzen erst ein, wenn Spulen leer sind), sind noch weitere Kostümeinfälle von Maldoror/Grzegorz Matlag zu bewundern. Vorherrschend ist die Farben Weiß, garniert mit ein wenig Schwarz. Die eigenartige Musik fesselt ebenso wie die Einfälle des Kostümdesigners. Geigerinnen zupfen an den unter dem Tisch gespannten Drähten und fahren auch mit dem Bogen darüber; Finger klopfen auf Violinen und Akkordeons; vorsichtig bläst die Klarinettistin in ihr Instrument, aus den Lautsprechern gluckst und flüstert, rumpelt und knarrt, schnauft und heult es.
Nach der Lichtkur, die offenbar dem Publikum gehört, denn die Bühne bleibt leer, geht es um die Sprache, die diesmal ganz dem Körper überlassen wird. Die Zunge der Tänzerinnen bewegen sich, kommen wir Schnecken aus dem Mund, doch es bilden sich keine Wörter. Ein hüpfender Wechselschritt zeigt, dass der Körper spricht. Anne Juren und Samuel Feldhandler eröffnen den Tanz, zu dem sich auch Alex Franz Zehetbauer und Linda Samaraweerová gesellen. Ein ruhiger ausdrucksstarker Pas de quatre, über den weißen Hemden liegen schwarz glitzernde Sakkos. Allmählich verdunkelt sich das anatomische Theater, die Musikerinnen packen ihre Instrumente zusammen. Ein winziger Moment der Stille, bevor der Applaus einsetzt. Der vorlaute Kreischhals merkt schnell, dass die üblichen Beifallskundgebungen in diesem Fall nicht angebracht sind, er schluckt seine Jodler wieder hinunter.
Anne Juren will mit Ihrer Choreografie ein Ziel erreich:
Die Performer*innen bringen ihre individuellen Symptome auf die Bühne und verwandeln sie in gemeinsame Erfahrungen, fordern die Grenzen zwischen Gesundheit und Kunst heraus und schaffen Koexistenz, gemeinsame Regulierung, Verständnis und ein Gefühl der Unterstützung. Das Publikum ist sowohl Zeuge als auch Teil dieses Transformationsprozesses durch Tanz und Musik, bei dem sich die Grenzen zwischen Performer*in und Publikum, Heiler*in und Patient*in auflösen.
Ob das tatsächlich erreicht worden ist, kann ich nicht beurteilen. Ich habe die Musik, die Kostüme, die Kuren und Heilrituale im Theatrum anatomicum von Roland Rauschmeier wie auch den Tanz am Ende genossen und mich wohlgefühlt. Mehr muss mir die Kunst nicht bieten, sie soll nur Kunst. Ich verzichte Gertrud Stein zu zitieren.
Anne Juren & Matthias Kranebitter. We Are All Mothers WAAM, Uraufführung 28.11.2024.
Künstlerische Leitung, Choreografie Anne Juren; Komposition Matthias Kranebitter
Performance von und mit Samuel Feldhandler, Anne Juren, Linda Samaraweerová, Alex Franz Zehetbauer
Musiker*innen Teresa Doblinger (Klarinette), Georgios Lolas (Akkordeon), Bojana Popovicki (Akkordeon), Juan Pablo Trad (Kontrabass). Sounddesign Paul Kotal;
Bühne Roland Rauschmeier; Lichtdesign Annegret Schalke; Lichtdesign Entwicklungsphase Bruno Pocheron & Annegret Schalke; Kostüme Maldoror / Grzegorz Matlag; Produktion Magdalena Stolhofer / dieKulturtanten
Eine Koproduktion von Wiener Tanz- und Kunstbewegung in Kooperation mit brut Wien, Wien Modern und ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival.
Fotos: © Karolina Miernik
Folgevorstellungen: 29., 30.11., 1.12.2024, brut nordwest
Eindorf COOK, EAT & CLEAN salon: Restor(y)ing the body, curated by Linda Samaraweerová. Programm: 14 bis 21. Dezember 2024. Eintritt frei.