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Von außen nach innen. Ein Tanz um den Unterbau.

Die Tänzerinnen im Netz (Sara Lanner, Hyeji Nam, Andrea Gunnlaugsdóttir

Weaving Infrastructures nennt die bildende Künstlerin und Tänzerin Sara Lanner ihre Choreografie, die sie mit zwei Kolleginnen, Andrea Gunnlaugsdóttir und Hyeji Nam, im brut gezeigt hat. Infrastruktur, der Unterbau, ist das, was wir zum guten Leben an materiellen und nicht-materiellen Systemen, Objekten und Leistungen brauchen, um ein gutes Leben zu führen. Ist die Infrastruktur dünn oder fast nicht vorhanden, ist das Leben schwierig bis kaum möglich. Mit Tanz, Text und Musik fragen die drei Künstlerinnen, wie abhängig uns vor allem die stetig wachsende technische und digitale Infrastruktur macht.

Im Flug: Sara Lanner, Andrea GunnlaugsdóttirDer Tanz beginnt im Vorraum des Theaters. Mit schwingenden Bewegungen arbeiten sich die drei Tänzerinnen von außen nach innen, verdichten sich zu einem synchron tanzenden Trio, fliegen mit flatternden Armen und ausholenden Schritten wieder auseinander. Allmählich schleicht sich die Musik ein, gibt den Rhythmus vor, der die exzellenten Tänzerinnen antreibt, dem sie sich auch widersetzen.Kommunikation in wechselnden Allianzen: Gunnlaugsdóttir, Lanner, Nam.Es gibt Textfetzen aus dem Off, auch in der Muttersprache der Tänzerinnen, Isländisch, Chinesisch und auch Englisch. Man muss nicht alles verstehen, Echoeffekte und zischelndes Flüstern ersetzen die Musik, die sich mitunter auch darüberlegt. Die Tänzerinnen, so steht es auf dem Programmzettel, erzählen eigene Geschichten und „suchen nach sozialer Gerechtigkeit in öffentlichen, privaten und kommerziellen Räumen“. Muss nicht jede(r) im Publikum kapieren, die Bewegungen, der Tanz,  der Sound von Peter Plos – Naturgeräusche und beklemmende Melodien – sind intensiv und befriedigend genug.
Die Installation als Bühnenbild, eine räumliche Infrastruktur, durch Menschenhand in Auflösung.Über den Unterbau, die Infrastruktur, machen wir uns ein anderes Mal Gedanken. Jetzt zähle ich die Sternlein am Himmel und muss erkennen, dass diese dahinsausenden Lichtpunkte Satelliten sind, die sich nahezu potenziell vermehren. Nicht nur an den Rändern von Verkehrswegen, auch zwischen den Menschen sind Wände errichtet.
Nicht nur die Satelliten werden gezählt, auch andere Zahlenreihen wirbeln akustisch daher. Vom Himmel wendet sich der Blick automatisch nach unten, erdwärts: Acht Milliarden bevölkern den kleinen Planeten Erde bereits. 2036 erwarten die Vereinten Nationen die 9. Milliarde. Die erste Milliarde ist im Jahr 1804 erreicht worden, im 20. Jahrhundert explodierte die Erdbevölkerung. Die Infrastruktur hat sich in allen Bereichen spürbar verbessert. Segen oder Fluch?
Elsa Okazaki hat den Probenprozess mit der Kamera verfolgt. (Andrea Gunnlaugsdóttir, Hyeji Nam, Sara Lanner)Die Tänzerinnen erforschen, was im menschlichen Zusammenleben passiert. Sie geben einander Halt und bekämpfen einander, zwei zerstören die Installation auf beiden Seiten der nach außen offenen Bühne. Senkrecht aneinander gereihte monochrome weiße Bilder aus dünnem Schaumstoff sind es, die krächzend und knackend brechen. Der Versuch, sie als schützende Hülle zu nutzen, misslingt. Architekten nutzen solche Platten für ihre Modelle räumlicher Infrastruktur. Auch die Bühnenbilder sind nicht mehr Fläche, werden dreidimensional, räumlich. Die dritte Tänzerin, Sara Lanner, beteiligt sich nicht am destruktiven Werk, sie liegt erschöpft im Hintergrund. Ein Bild des Jammers. Die Infrastruktur kann Schutz bieten oder Bedrohung sein. Die Tänzerinnen probieren beides aus. Auch mit geschlossenen Augen bewegen sich die Tänzerinnen, sprechen tonlos, zeigen Gebärden, die nicht entschlüsselt werden. Hat uns die Macht der Infrastruktur blind und taub gemacht? Können wir einander nicht mehr sehen, nicht mehr hören, können wir einander nicht mehr verstehen? Benötigen wir das, Telefon, Facebook, Instagram, Gameboy, den ganzen Algorithmus-Kram? Beherrschen wir die Infrastruktur oder beherrscht sie uns? Antworten haben auch die Tänzerinnen nicht, sie tanzen Erfahrungen, Beobachtungen, Gedanken und Träume.

Infrastrukturen können so unterschiedlich gestaltet sein: Sie begünstigen oder unterbinden Interaktion oder den Zugang zu Ressourcen. Sie regeln das Leben von Individuen, Gruppen, Milieus und Nationen. Sie formen deren Rituale, Normen oder Gesetze, schaffen Hierarchien und Mechanismen der In- und Exklusion. (Pressetext)

Choreografin, Tänzerin, bildende Künstlerin SaraLanner, fotografiert von Elsa Okazaki.Nachdem alle Aspekte der Kommunikation und des sozialen Zusammenlebens ausgeleuchtet sind, kommen die wunderbaren Schmetterlinge wieder auf die Bühne. Wie zu Beginn fliegen sie wieder mit den Armen pendelnd durch den freien Raum,  flattern dann von innen nach außen, um sich einer Schwerarbeit zu widmen. Kraftvoll zerren sie ein buntes Gummiungetüm in den Vorraum, das Publikum darf zuschauen, wie sich das undefinierbare Objekt aufbläst. Zwei Türme erheben sich bedrohlich, Zinnen richten sich auf, eine Plattform entsteht. Bald wissen wir: Ein Luftschloss baut sich auf. Und fällt bald wieder in sich zusammen.
Später, wenn der Applaus abgeebbt ist und die ersten ihre Mäntel anziehen, erwacht der bunte Traum noch einmal zum Leben und wird zu dem, was er reell ist, eine Hupfburg. Gleich wird zur Probe ein wenig gehüpft.
So hat diese formal so schöne und beeindruckende und inhaltlich so bedrückende Vorstellung einen fröhlichen Abschluss gefunden.
So arg wird’s schon nicht sein, mit der uns einwebenden Infrastruktur. Die Predigt, was die Menschen dem Gespinst entgegensetzen können, wird nicht gehalten.

Sara Lanner: Weaving Infrastructures, Uraufführung: 19.1.2024, brut nordwest.
Künstlerische Leitung: Sara Lanner. Choreografie, Performance: Andrea Gunnlaugsdóttir, Sara Lanner, Hyeji Nam
Licht: Sveta Schwin, Sound: Peter Plos, Raum und Objekte: Larry Meyer, Sara Lanner, Kostüm: Jo Sperl. Presse: Simon Hajós, Produktion: Julia Neuwirth, partner in crime,
Wiederholungen: 20., 22., 23. Jänner 2024
Fotos: © Christine Miess, Elsa Okazaki (2)