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Tanz Linz: Gespenstertango barfuß im Sand

TANZ LINZ: Fulminantes Ensemble in ebensolcher Choreografie

Gefangen in ihren Träumen, unheimliche, furchterregende und auch süße, sind Frauen und Männer. Zeit und Raum jedenfalls sind aufgehoben, wenn TANZ LINZ am 6. Juni in der Black Box des Musiktheaters Traumzeit zeigt. Fünf Mitglieder der Company sind für die Choreografie verantwortlich, Aaron Breeze hat eine Soundcollage geschaffen, die gemeinsam mit den dynamischen Tänzer:innen auch das Publikum zu Träumenden macht.

Wollen die über den Köpfen hängenden Puppen hinunter oder hinauf?  Sie wissen nicht, sind es Traumbilder, die sie aus der Tagesrealität herausheben oder sind der schwankende, sandige Boden, die unheimlichen Gestalten, die Liebe und der Tango, das reale Leben und das, wonach sie sich sehnen, was sie erreichen wollen, das Gaukelspiel von Morpheus, dem Gott der Träume.
Sind wir alle in einem Traum gefangen und nennen es Leben?
Was die fünf Choreograf:innen (Y-u Teng Huang, Katharina Illnar, Angelica Mattiazzi, Lorenzo Ruta, Pedro Tayette)  in Zusammenarbeit mit ihren Kolleg:innen Elena Sofia Bisci träumt, allein auf dem schwankenden Boden zu sein.und der Dramaturgin Roma Janus (zugleich Direktorin von TANZ LINZ), die für eine stringente Choreografie gesorgt hat, zeigen, ist ein perfektes Tanzstück. Die Tänzer:innen, inklusive des Choreografie-Quintetts, zeigen mit ihren kraftvollen und mitunter auch weichen, schmiegsamen Bewegungen, was sie träumen, hoffen, lieben. Es ist spürbar, wie sehr alle an diesen wunderbaren Traumbildern, als Gruppe und als Solist:innen mit jeder Faser ihrer Körper und Seelen beteiligt sind.Ein Gespenst mit zwei Gesichtern. Der doppelte Boden steht auf dem Kopf, die Realität ist oben, einige haben schon versucht, zu entkommen, sie hängen verzweifelt in den beleuchteten Fenstern über den Köpfen der barfuß im Sand verträumt und heftig bewegt Tanzenden. Wenn das bunte Licht wechselt, blaue Wellen über die Körper der aus transparentem Material geformten, von goldschimmernden Adern durchzogenen Puppen huschen, meint man, sie bewegten sich. Wollen die über den Köpfen hängenden Puppen hinunter oder hinauf? Das flackernde blaue Lich scheint sie ins Meer zu schwemmen. Man denkt an Hilfe suchende Menschen in einem Boot auf dem Meer. Wenn einzelne auf dem Boden unten versuchen, durch eine offene Türe in eine andere Welt zu gelangen und immer wieder zurückgestoßen werden oder die Gruppe sich zusammendrängt, sehnsuchtsvoll nach oben blickt, die Hände mit gespreizten Fingern in den Himmel reckt, verschmelzen Traum und Wirklichkeit zu berückend schönen Bildern. Auch Bildern, die wir selbst aus unseren Träumen kennen. Die im Traum Gefangenen kämpfen um den Platz am möglicherweise rettenden Seil.
 Doch die Szenen sind fein abgestimmt. Ein heiteres Fest wird gefeiert, bei dem den Gästen die Trauben in den Mund fallen und eine Göttin einen belebenden Trank spendet. Barocke Malerei könnte die Inspiration für dieses köstliche Bild gewesen sein. Die Kostüme von Karin Waltenberger sind in changierenden,  sanften Farben, auch sie spiegeln die zerfließenden Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit wider. Das Bühnenbild von Aleksander Kaplun, seit 2015 arbeitet der bildende Künstler als Ausstattungsassistent am Landestheater, zeigt im Hintergrund ein Traumgebilde. Zwei zueinander querstehende Metallreifen sind ineinander gefügt, krönen ein metallenes Podest, auf das zwei Treppen führen. Alle wollen hinauf, heraus aus dem Traum, hinein die Wirklichkeit, keine(r) schafft es. Im Bild: Lorenzo Ruta.Die Tänzer:innen benützen den großen Reifen als Hängematte, agieren auf dem kleinen Podest, wie das Gespenst, das unvermutet und leise erscheint. Später schwingt es auf dem sandigen Boden im Tangoschritt und nimmt plötzlich seine Maske ab, wird zum doppelköpfigen Janus.
 Gekonnt mischt der britische Pianist und Komponist Aaron Breeze elektronische Musik mit ins Ohr gehenden, bekannten Klängen. Auch ein verliebtes Paar tanzt den Tango, sie glaubt seinen ins Ohr geflüsterten Schwüren, sieht nicht, dass er hinter ihrem Rücken eine Pistole hält. Der Schuss geht ins Leere, Erholung von den Albträumen mit barocker Fete. Im Vordergrund: Angelica Mattiazzi, Pedro Tayette.aus dem Himmel fällt ein Seil. Keiner / keinem gelingt es, hinaus aus der Enge, hinauf ins Licht, zu klettern. Sie bleiben, wo sie sind, gefangen in den Träumen, Ängsten und Sehnsüchten, recken die Hände nach oben, wenden Gesichter ins Licht und werden immer von krampfartigen Zuckungen gebeutelt. Die Bühne wird finster. Erst wenn der Applaus wie ein Orkan durch die ausverkaufte Black Box fegt, wird sie wieder in Licht getaucht und 15 glückliche Tänzer:innen inklusive fünf Choreograf:innen verbeugen sich. Albtraum mit Säugling:  Arthur Samuel SiciliaDas jubelnde Publikum holt sie immer wieder vor den Vorhang.
 Zum Abschluss eine Nebenbemerkung zur Beruhigung: Es fließt kein Blut, der Sand ist Bühnensand aus winzigen weichen Kautschukkörnern. Diesen, durch die Auflage ständig schwankenden Untergrund muss man selbst berührt haben. Aus dem Saal ist richtiger Sand zu sehen, der rieselt und knirscht, sich zu kleinen Hügeln türmt, wenn die tanzenden Füße die Körner verschieben, die kleinen Berge werfen tiefe Schatten. Dadurch entstehen sich ständig verändernde, ineinander verschwimmende Muster. Und das ist nicht nur ein Theatertraum, sondern harte Realität: Nix ist fix.

Traumzeit, ein Tanzstück von TANZ LINZ. Musik Aaron Breeze. Premiere: 6. Juni 2023, Black Box im Musiktheater Linz.
Choreografie: Yu-Teng Huang, Katharina Illnar, Angelica Mattiazzi, Lorenzo Ruta, Pedro Tayette.
Bühne: Aleksander Kaplun, Kostüme: Karin Waltenberger, Video: Constantin Georgescu, Sounddesign: Aaron Breeze. Choreografische Supervision: Constantin Georgescu, Yuko Harada, Dramaturgie: Roma Janus.Der doppelte Boden ist in der Höhe, dort, wo das Licht strahlt. Die Gruppe ist sich einig: Dort wollen wir hin. Gelungen ist es bis zum Finale nicht. Tanz und Choreografie: Elena Sofia Bisci, Matteo Cogliandro, Ilia Dergousoff, Mischa Hall, Yu-Teng Huang, Katharina Illnar, Elisa Lodolini, Angelica Mattiazzi, Pavel Povrazník, Lorenzo Ruta, Arthur Samuel Sicilia, Nicole Stroh, Hinako Taira, Pedro Tayette, Fleur Wijsman
Fotos: Philip Brunader hat die Hauptprobe am 3. Juni 2023 fotografiert.
Folgevorstellungen bis 2. Juli 2023.