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Nähe und Distanz im Duett – der Körper im Zentrum

Daniela Georgieva, Hugo Le Brigand in „270206“.

Wenn Daniela Georgieva und Hugo Le Brigand auf der Bühne erscheinen, ist klar: Im Mittelpunkt ihrer Performance „270206“ steht nicht, wie so oft, ein Selfie, die Präsentation des eitlen Selbst, sondern der Körper, der Tanzkörper in Bewegung. Nähe und Distanz, Isolation und Gemeinschaft, innige Umarmung und kalte Zurückweisung. Mit „270206“ haben Georgieva und Le Brigand im brut nordwest ein Tanzstück gezeigt, das neben der Freude an der Bewegung und der Begegnung zweier Körper auch vermittelt, dass der Tanz, der trainierte Körper im Raum aus Licht und Klang, noch existiert.

Hugo Le Brigand bei seinem eindrucksvollen Auftritt. Rätselhaft klingt der Titel aus sechs Ziffern. Die Erklärung liefert das Künstlerpaar: „Der menschliche Körper ist einem Prozess des Werdens unterworfen. Sein Skelett, das bei der Geburt aus 270 Knochen bestand, wird im Laufe des Wachstums auf ein Minimum von 206 Knochen reduziert. In ‚270206‘ wird der Körper in seiner Anatomie zum Ausgangspunkt.“ Interessanterweise ist # 270206 auch ein Hex-Farbcode (Hexadezimal Codes dienen der Farbbestimmung im Internet) für ein „sehr dunkles, fast schwarzes, Rot“. Doch diese Deutung des Titels kann nach der Vorstellung verworfen werden, es geht dem Duo um den Körper, der nach Nähe sucht und Distanz braucht.Daniela Georgieva kreuzt den Weg des Tänzers. Er gönnt der Tänuzerin einen weniger spektakulären Auftritt.
Zwei Tanzkörper, die sich aus ihrer Umhüllung befreien und den großen Bühnenraum im brut nordwest auf sich kreuzenden Wegen durchmessen. Allmählich nähern sie sich einander an, lösen sich wieder voneinander, um immer näher aneinander zu rücken. Es  ihnen, miteinander zu verschmelzen. Ein einziges Wesen ist auf der Bühne, vier Arme, vier Beine, wem sie gehören, ist nicht mehr festzustellen. Im Raum aus sanften Klängen und wechselndem Licht rollt und schaukelt das neue Wesen in Selbstvergessenheit. Wenn Zweifel und Unsicherheit überhandnehmen, lösen dich die Körper wieder, um gleich ein noch innigeres Bild zu zeigen. Ohne drastische Deutlichkeit lösen sich die physischen Grenzen auf, aus zwei einander anfangs fremden Körpern wird ein Bild, ein erotischer Moment. Zwei Körper verschmelzen zu einem.
Georgieva und Le Brigand haben sich, wie sie sagen, an der Bewegungssprache des Judson Dance Theater orientiert. Das Kollektiv von Tänzer:innen, Komponisten und bildenden Künstlern, das sich zu Beginn der 1960-er Jahre in der Judson Memorial Church im Greenwich Village in Manhattan versammelt hat, verweigerte sich den Regeln des Modern Dance und kreierte den „Postmodern Dance“ mit eigenen Regeln. Die Hauptregel war jedoch, dass es gar keine Regeln gibt, außer der, sich vom aktuellen narrativen Tanz zu distanzieren. Tanz der Arme und Hände im Gegenlicht. Le Brigand und Georgieva beziehen auch Alltagsbewegungen in ihre Performance ein, arbeiten vor allem mit den Hüften und den Armen, die Beine dienen zum Gehen. Licht und Klang bilden den Raum, drängen sich nicht vor, die Körper, getrennt oder ineinander verschlungen, bilden das Zentrum.
Daniela Georgieva und Hugo Le Brigand zeigen mit ausdrucksreicher Bühnenpräsenz, energetisch und bewegungsfreudig, einen spannenden Pas de deux ohne Redundanz und Banalität.
Wir sind (noch) nicht verloren, es wird getanzt, getanzt, getanzt. Wieder und immer noch.  

„270206“, ein poetisch-minimalistisches Duett. 11., 12., 13.11. 2022, brut nordwest.
Konzept, Choreografie, Performance: Daniela Georgieva, Hugo Le Brigand.
Dramaturgie: Vanessa Joan Müller, Sounddesign: Moritz Nahold, Lichtdesign: Samuel Schaab, Kostüme: Anna Sedlmayr // ANN[DONE.
Fotos: © Franzi Kreis,  @ Maximilian Pramatarov