Lia Rodrigues:“Encantado“, Wiener Festwochen
Bedächtig rollen sieben Tänzer:innen einen farbigen Teppich auf der Bühne des Odeon Theaters aus. Eine Patchwork-Arbeit aus nicht festgenähten bunten Tüchern, die später in Kostüme verwandelt werden. Mit der neuen Produktion „Encantado“ macht die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues / Companhia de Danças auf ihrer Europa-Tournee auch bei den Wiener Festwochen halt. Auf der Bühne toben die Tänzer:innen, danach tobt das Publikum auf der Tribüne.
„Encantado“ heißt auf Deutsch „verzaubert“, doch Rodrigues bezieht sich auch auf die Encantados, magische Wesen, die in der afroindigenen Kultur Brasiliens zu finden sind und sich zwischen Erde und Himmel, zwischen der Welt der Lebenden und der Toten bewegen. Auslöser für „Encantado“ war die Covid-Pandemie, die Brasilien besonders hart getroffen hat. Die drei Teile der Performance spiegeln auch die Arbeitsphasen, die 2021 begonnen haben, wider.
Im ,sten Teil sind die Künstler:innen getrennt und ohne Kontakt zueinander. Im zweiten Teil beginnen sie, Duos, Trios und Quartette zu bilden, und am Ende des kreativen Prozesses, nachdem alle geimpft wurden, entstand dann schließlich ein gemeinsamer Tanz, den alle gemeinsam tanzen und bei dem sie einander sehr nahe sind.“ (Lia Rodrigues, Wiener Festwochen).
Nackt kriechen Tänzerinnen und Tänzer unter die Teppichfliesen, wickeln sich darin ein, setzen sie als Kronen, Turbane, Perücken auf, werden zu Geisterfiguren, Chimären, Tieren, Pflanzen, Architektur. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Noch klingt die Musik der Guarani, des größten indigenen Volks Brasiliens, leise, allmählich mischt sich der Gesang in den Klang silberner Glocken, die Musik wird immer lauter und drängender, der Tanz immer wilder.
Im Gegensatz zu ihrem Wut-Stück „Furia“ (Festwochen 2019) ist „Encantado“ im Grundton fröhlich, auch wenn Rodrigues aus ihrer Bilderwelt schöpft und Macht und Ohnmacht, Herrschaft und Unterdrückung visualisiert. Menschen werden zu Reittieren degradiert oder als Hunde an der Leine geführt, Frauen werden niedergeworfen, Kleider entrissen, Männer, gefesselt und wehrlos, gestoßen und wie ein Paket hinterher gezerrt. Immer wilder wird das Geschehen, die elf Tänzer:innen wiegen sich im hämmernden Takt der Musik, fügen mit Twerking eine erotische Komponente hinzu, verhüllen und enthüllen sich, sind Riesinnen und kopflose Gespenster, splitterfasernackt und gleich wieder von Kopf bis Zeh eingehüllt. Die nun dröhnende, hämmernde Musik treibt die Gruppe in Ekstase, eine Fetzenorgie, eine rasendes Tohuwabohu entwickelt sich auf der Bühne. Tanzwut bis zur Erschöpfung! Lia Rodrigues will mit dieser Aufführung, mehr aufwühlendes Erlebnis als Tanzstück, ein Angebot machen, wie die Angst zu besiegen ist:
„Wie können wir unsere Ängste verzaubern und uns in Gemeinschaft zusammenschließen, uns nah aneinanderstellen? […] Wie verwandelt ihr also eure Träume in etwas Wirkliches? Wir wollten eine Verzauberung wie durch Magie herbeiführen.“
Das ist gelungen, nehmt alles nur in allem!
Lia Rodrigues: „Encantado“
Konzept, Choreografie Lia Rodrigues. Von und mit Leonardo Nunes, Carolina Repetto, Valentina Fittipaldi, Andrey da Silva, Larissa Lima, Ricardo Xavier, Joana Lima, David Abreu, Matheus Macena, Tiago Oliveira, Raquel Alexandre. Choreografieassistenz Amalia Lima, Dramaturgie Silvia Soter, Licht Nicolas Boudier, Sound Alexandre Seabra. Künstlerische Mitarbeit, Fotos © Sammi Landweer. Premiere am 6.6.2022, Odeon Theater, Wiener Festwochen. Folgevorstellungen: 7., 8., 6.2022.
Die Musik basiert auf Gesängen der Guarani Mbya aus dem Dorf Kalipety, Terra Indigena Tenondé Porã, gesungen während der Demonstration indigener Völker für die Anerkennung ihrer gefährdeten Gebiete im August 2021 in Brasilia.