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Mette Ingvartsen: „Dancing Public”, Tanzquartier

Mette Ingvartsen: "Unterdrückte Energie freisetzen".

Es scheint ein Bedürfnis zu bestehen, etwas körperlich freizusetzen und ich habe das Gefühl, dass das Stück als Sammelbecken für unterdrückte, enthaltene Energie fungiert und schließlich platzt.“ Die erfolgreiche dänische Tänzerin und Choreografin lädt, vorsichtig und dezent, zum Mittanzen ein. Bei der Premiere im Tanzquartier hat das wunderbar funktioniert. Mette gerät in Raserei, das Publikum lässt sich von der Tanzwut anstecken.

Heute Abend werden wir tanzen
Der Himmel wird tanzen
Der Mond wird tanzen
Die Planeten werden tanzen
Die Sterne werden tanzen …«

Kupferstich von Hendrik Hondius nach einer Zeichnung Pieter Bruegels des Älteren aus dem Jahre 1564: "Die Wallfahrt der Fallsüchtigen nach Meulebeeck "(einem Ort in der Nähe von Brüssel). Es dürfte sich hier um eine spätes Auftreten von Tanzwut gehandelt haben, vermutlich war Bruegel Augenzeugne des Ereignisses. © gemeinfreiNach Lockdown und Isolation haben wir es nötig, den gesamten Frust rauszulassen, indem wir tanzen, damit liegt Mette Ingvartsen sicher nicht falsch. Mit kaum versiegender Energie tanzt, rappt und singt Ingvartsen eine gute Stunde lang. Sie bewegt sich, stampft und zuckt mitten im sich wiegenden Publikum oder auf den Plattformen, die den Raum, in dem die vierte Wand niedergerissen ist, begrenzen. Zugleich erzählt sie von der Tanzwut, auch Tanzplage oder Tanzpest genannt, die besonders vom 14. bis 17. Jahrhundert an begrenzten Orte in Europa ausgebrochen ist. Ingvartsen, die in früheren Werken Tanzen und Politik in Zusammenhang gebracht hat, schlägt in ihre Erzählung, die wegen der Musik nur als Wortfetzen an die Ohren dringt, über die Jahrhunderte bis ins 20. Hundert Zuschauer: innen werden zu sich schüttelnden, zappelnden Tanzfiguren, befreien sich von Ärger und Wut, von Beschränkung und Isolation, sind ein Körper geworden. Mette Ingvartsen bringt das Publikum zum frustbefreienden Tanzen. Von der historisch belegten Tanzwut sind allerdings weder die Tänzerin Mette Ingvartsen noch das motivierte und animierte Publikum befallen. Denn was sie tun, tun sie freiwillig, das Tanzvirus früherer Jahrhunderte hat die Menschen, und, wie gesagt wird, vor allem Frauen befallen, ob sie wollten oder nicht. Sie mussten tanzen, bis sie vor Erschöpfung umgefallen, manche sogar gestorben sind.
Mit Ingvartsen haben alle das Glück, beschwingt in die beginnende Nacht hineinzuwandern. Vielleicht sehen sie, wie die Künstlerin gedichtet hat, den Himmel und die Sterne tanzen.

Mette Ingvartsen: „The Dancing Public”, Konzept, Performance, Bühnenbild, Musikalisches Arrangement: Mette Ingvartsen. Unterstützung von Minna Tikkainen (Lichtdesign und Bühnenbild) und Anne van de Star (Musik). 29., 30. April 2022, Tanzquartier.
Fotos: © Hans Meijer