Ballett Salzburg: „Lili, The Danish Girl“
Reginaldo Oliveira, Chef und Chefchoreograf des Ballettensembles am Landestheater Salzburg, hat mit seiner neuesten Choreografie ein heißes Eisen beherzt angefasst: Trans- und Intersexualität. Die Protagonistin der Uraufführung „Lili, The Danish Girl“ ist die Malerin Lili Elbe, eine Frau in einem Männerkörper. Sie hat sich 1930/31 als vermutlich einer der ersten intersexuellen Menschen einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen. Aus Einar ist Lili geworden. Mit Kraft und Fingerspitzengefühl hat Oliveira die wahre Geschichte auf die Bühne gebracht. Star des Premierenabends am 12. März ist der junge Tänzer Klevis Neza als Einar / Lili.
Ein Knäuel nackter Menschen türmt sich im Hintergrund. Bald lösen sich Einzelne heraus, zwei gestrenge Damen, später werden sie als Nonnen die Kirche bewachen (Chigusa Fujiyoshi, Moeka Katsuki), und sortieren die Menschen nach Geschlechtern. Rechts die weiblichen, links die männlichen Wesen. Schon taucht die erste Frage auf: Wie wird das Geschlecht, mit dem die Person ihr Leben verbringen wird, bestimmt. Nach äußeren Merkmalen? Gefragt werden die im Eilverfahren Eingeteilten nicht. Einar Mogens Andreas Wegener, geboren 1882, ist auf die rechte Seite gestellt worden. Bis zu seinem Studium an der Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen und seiner Heirat mit der Kollegin Gerda Gottlieb (getanzt von Larissa Mota) hat er sich nicht laut darüber beschwert.
Auch Gerda malt, und sie hat sich mit ihrer Freundin Hélène (Valbona Bushkola) verabredet, um diese zu porträtieren, doch Hélène verspätet sich und Gerda überredet ihren Mann, Modell zu sitzen. Einar fühlt sich wohl im seidenen Kleid, und die endlich eintreffende Hélène ist begeistert. Als weibliches Trio beschließen sie gemeinsam auszugehen, Gerda, Hélène und Lili, die von niemanden als Einar erkannt wird. Für Einar ist dieser Abend mehr als ein Spiel, Lili spürt, dass sie im falschen Körper lebt. Eine überaus schwierige Reise beginnt, denn Lili will Lili bleiben und reist von Arzt zu Arzt, von denen viele sie für verrückt erklären, erträgt die Aggressionen der Gesellschaft, die mit der Verwandlung nicht zurechtkommt. Unterstützt von Gerda gibt Lili nicht auf und lernt endlich den deutschen Arzt Kurt Warnekros kennen, der sie versteht und sich an eine geschlechtsangleichende Operation wagt.
Das Schicksal der Lili Elbe ist in mehreren aus hinterlassenen Papieren nach ihrem Tod von Niels Hoyer herausgegebenen Büchern und dem Film „The Danish Girl“ dargestellt. An diese Quellen hält sich auch Choreograf Reginaldo Oliveira, stellt die Handlung bis zur ersten Operation in bewegten Szenen dar, lässt die Zuschauer aber auch an den Ängsten, Zweifeln, Hoffnungen und den letzten Glücksmomenten teilhaben. Nicht nur vom Solisten Klevis Neza wird einiges an Kraft und Balance abverlangt. Oliveira arbeitet mit der Körperspannung, dem Sprungtalent, der Geschicklichkeit und dem Gleichgewichtssinn der Tänzer:innen. In vielen Szenen turnen sie mit silbrigen Sesseln auf Rollen. Sie balancieren auf den Lehnen der instabilen Objekte, Neza wird nahezu zerrissen, wenn er zugleich auf zwei dünnen Sprossen stehen muss. Die hübsch anzusehenden Rollsessel geben dem Tanz eine ungeahnte Dynamik imd können, in Schwung versetzt und sich selbst überlassen, auch zur Waffe werden. Oliveira ist in Rio de Janeiro zum Tänzer ausgebildet worden und war Solist am Teatro Municipal do Rio de Janeiro. 2006 ist er nach Deutschland gekommen, wo er mit dem Staatsballett Karlsruhe seine erste Choreografie vorgestellt hat. Seit der Saison 2017/18 ist er leitender Choreograf und Spartenleiter Ballett am Salzburger Landestheater. In seiner jüngsten Kreation kann er die Herkunft aus der Tanzwelt Brasiliens, die körperbetont, akrobatisch, rhythmisch und, wie der Capoeira, aus Kampfkünsten entstanden ist, nicht verleugnen. Dementsprechend heftig und effektvoll geht es auf der Bühne zu, mit Sprüngen, Tritten, Saltos und rasanten Drehungen. Tanztheater, das das Premierenpublikum zu Jubelrufen hingerissen hat.
Die von Sebastian Hannak gestaltete Bühne wird durch verschiebbare Paravents in Schwarz, Silber und Blau begrenzt, je nach Bedarf entstehen auf Knopfdruck kleine intime und große bevölkerte Räume. In spiegelnden Glaskästen bieten sich die Prostituierten dar, die Einar besucht, auch Lili und ihre beiden Identitäten, die sie bis zur Operation begleiten (Niccolò Masini, Paulo Muniz in der Rolle von ⚥), sind mitunter in den gläsernen Kasten gezwängt.
Mit Bedacht hat Oliveira die Musik ausgewählt, vor allem Zeitgenossen Lilis geben den Takt an: Francis Poulenc (1. Satz des Konzerts für zwei Klaviere, 1932, Konzert für Orgel, Streicher und Pauke, 1938, Élégie (en accords alternés) für zwei Klaviere, 1959 und auch der Däne Rued Langgaard, dessen Frühwerk Sfærenes Musik“, entstanden um 1917, mit seinen Klangflächen und den „räumlichen“ Episoden evoziert Melancholie und Todesangst und lässt die Tänzer:innen die ganze Palette ihrer Emotionen darstellen. Vom österreichischen Komponisten HK Gruber, geboren 1943, stammt die auf das Motiv der „Polka Perpetuum mobile“ von Johann Strauß (Sohn) komponierte Einlage „Charivari“. Das Finale bildet das Klavierkonzert Nr. 2 Op. 102, F-Dur von Dimitri Schostakowitsch (1906–1975). Zum 19. Geburtstag seines Sohnes entstanden, vermittelt es Lebensfreude und Leichtigkeit. Alle Musikstücke werden vom Tonträger abgespielt.
Reginaldo Oliveira zeigt intensives, sinnliches Tanztheater, das auch durch die Kraft und Ausdauer der Tänzer:innen den Verdacht, auf den aktuellen Trend diverser Genderdebatten und -performances aufzuspringen, gar nicht erst aufkommen lässt.
Er erzählt eine Geschichte, bietet jedoch mit der kleinen Compagnie mehr als die nackte Handlung, zeigt den Kampf Lili Elbes um ihre Identität, das Auf und Ab ihrer Gefühle. Nicht sie allein leidet, bangt und hofft, auch Gerda Wegener, die, auch als Einar nicht mehr ihr Mann sein kann und will, tapfer zur neuen hält und sie darin bestärkt, die Operation zu riskieren. Ein beeindruckendes Tanzstück, das im Premierenjubel endet. Dieser gilt den Tänzer:innen ebenso wie dem Choreografen und seinem Team.
„Lili, The Danish Girl“, Uraufführung
Tanztheater von Reginaldo Oliveira, szenische Konzeption und Choreografie.
Bühne: Sebastian Hannak; Kostüme: Judith Adam; Licht: Lukas Breitfuss. Dramaturgie: Maren Zimmermann.
Fotos: © Anna-Maria Löffelberger
Premiere: 12. März 2022, Landestheater Salzburg.
Nächste Vorstellungen: 18.3., 1.4., 6.5.2022.