Michiel Vandevelde: „The Goldberg Variations“
Ein Trio von zwei Tänzern und einer Tänzerin, ein Komponist und Musiker mit dem Akkordeon und Johann Sebastian Bachs „Goldberg Variationen“ ergeben einen großartigen Tanzabend. Philippe Thuriot hat Bachs bekanntes Klavierwerk für sein Instrument transponiert und spielt die Komposition live auf der Bühne. Die Choroegrafie hat Michiel Vandevelde, der auch selbst tanzt, geschaffen und auch mit theoretischem Unterbau versehen. Doch der ist lediglich Zusatz für jene, die fragen, was der Tanz ausdrücken soll. Bewegung zur Musik im Raum, das sollte genügen. Mit Jubel und Applaus zeigt das ImPulsTanz Festival-Publikum nach der Premiere im Odeon seine Begeisterung für die überzeugende Performance.
Spannend ist in dieser Stunde, in der Vandevelde laut Programmheft über die „Beziehung von Tanz und Demokratie reflektieren“ will, die Diversität der drei Tanzenden. Oskar Stalpaert ist Tänzer bei Platform-K, einer Tanzkompanie in Gent, die Menschen mit Behinderung mit Künstler:innen für inklusive Tanzformen verbindet. Der Choreograf und Mittänzer, Michiel Vandevelde, geboren 1990, ist weit über seine Heimat Flandern hinaus gern gesehener Gast, auch bei ImPulsTanz und dem Festival Steirischer Herbst. Auch die junge schwarze Tänzerin Audrey Merilus hat ihre Ausbildung in De Keersmaekers Studio P.A.R.T.S genossen und auch in der Compagnie Rosas getanzt. Obwohl seit 2018 Teil des Centre Chorégraphique National d’Orléans, hat sie sich vom typischen Keersmaeker-Stil noch nicht befreit, wie ein Rehkitz bewegt sie sich anmutig über die Bühne.
Die Tänzerin und die beiden Tänzer stellen sich persönlich vor und erklären, dass „The Goldberg Variations“ Vergangenheit und Zukunft verbinden soll und sie im Tanz erforschen wollen, wie gesellschaftspolitische Kontexte die Kunst beeinflussen und wie Tanz und Demokratisierung zueinander stehen. Graue Theorie! Der Tanz mit individuellen Solos oder synchron gemeinsam, ganz dem von Bach vorgegebenen Rhythmus hingegeben, ist grün, ist des Lebens goldner Baum. Johann Wolfgang G. darf das, den goldenen Baum grün nennen.
Die Bühne leert sich, das Licht erlischt, im Finstern nimmt Thuriot samt seinem Instrument Platz und spielt die Aria zur Introduktion.
Entsprechend der Idee, in die Vergangenheit zurückzublicken und die Gegenwart zu betrachten, ist auch die Vorstellung in zwei Teile geteilt: Es war einmal (dunkle Hosen, nackte Oberkörper), und nach einer kleinen Pause kommen alle drei im Festtagsgewand (weiße Hosen und durchscheinende bunte Hemden) im Heute an. Vandevelde ließ sich überdies vom Tänzer Steve Paxton (*1939) inspirieren, dem Begründer der Kontaktimprovisation. Seine Improvisation zu Bachs "Goldberg Variationen" hat der Tänzer zwischen 1986 und 1992 an die 200 Mal gezeigt. Zu Studienzwecken hat Walter Verdin eine Videoaufzeichnung hergestellt. In Wien war die Reimprovisation durch Jurij Konjar zu sehen, die der slowenische Tänzer nach einer schweren Kopfverletzung mit Paxton einstudiert hat.
Die theoretischen Überlegungen illustriert Vandevelde mit Ausschnitten aus Videodokumentationen, von Protestmärschen, Militärparaden oder auch kurzen Gruppentänzen. Doch im Grunde lenken solche Spielereien vom Bühnengeschehen mehr ab als sie es beleuchten. Im Odeon bietet sich auch keine glatte Wand als Wiedergabefläche an, so zerfallen die Bilder in den Pilastern und Pfeilern, die als Reste der Architektur der ehemaligen Getreidebörse stehen geblieben sind.
In der ersten Hälfte bleibt die Odeon-Bühne leer, lediglich Thuriot, der mit dem Akkordeon auf dem Schoß in die Musik vertieft auf seinem Sessel in der Mitte sitzt, lenkt den Blick vom tanzenden Trio ab. Im zweiten Teil spielt Vandevelde mit dem Licht, schaltet auch Disco-Beleuchtung in grün und rot ein, oder lässt im schummrigen Dunkel tanzen.
Egal, ob man über Steve Paxton, der 2002 mit der legendären Lisbon Group zum letzten Mal im ImPulsTanz Festival gastiert hat, Bescheid weiß und den Gedanken von Vandevelde über die Beziehung von Tanz und Demokratie folgen kann oder eben nicht, was die Tänzerin und die beiden Tänzer mit ihrem Körper, den oft zum Himmel erhobenen Armen, den schnellen Drehungen und rasanten Spurts um das Bühnenrund erzählen, ist auch ohne theoretischen Unterbau einprägsam genug, um einen Abend zu tragen.
Dass keine Kunst, ob flüchtig für die Bühne oder für die Dauer im Atelier geschaffen, im Vakuum geschaffen wird, sondern inmitten der gesellschaftspolitischen Realität entsteht, ist mehrfach, etwa von der Choreografin und Tänzerin Eszter Salamon mit der Serie „Monuments“, erforscht und betont worden.
Platform-K / Michiel Vandevelde / Philippe Thuriot: „The Goldberg Variations“. Choreografie: Michiel Vandevelde. Tanz: Oskar Stalpaert, Michiel Vandevelde, Audrey Merilus. Musik: Philippe Thuriot. Dramaturgie: Kristof van Baarle; Bühnenbild Vandevelde mit Unterstützung von Tom Callemin; Beratung Lichtdesign: Tom Bruwier; Kostüm: Tutia Schaad. Österreichische Erstaufführung. 8. August 2021, Odeon / ImPulsTanz. 2. Vorstellung: 10. August 2021.
Fotos: © Tom Callemin