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Maguy Marin: „Umwelt“, ImPulsTanz

Anfangs spiegeln sich Banalität und Alltag, die gewohnte Umwelt.

Bilder der Auflösung. Die Grande Dame der französischen Choreografie, Maguy Marin, kennt keine Kompromisse, läuft nicht dem Publikum nach, folgt keinem Trend, sondern sagt, spröde und rau, was sie zu sagen hat, zeigt, wie es um die Welt steht: „Umwelt“, ein Tanztheater, das sie 2004 mit 53 geschaffen hat, und von Jahr zu Jahr aktueller wird. In einer Neuproduktion hat „Umwelt“ im ImPulsTanz Festival am 22. Juli im Volkstheater Premiere gehabt.

Essen, trinken, pflanzen, ernten: Immer das Gleiche Tag für Tag. Als fantastisches Spiel mit Licht, Spiegeln und einem invasivem Raumton rollen die Filmbilder vor den Zuschauer:innen ab. Neun Tänzer:innen kommen und gehen, essen, trinken, wechseln die Kleidung, lieben, streiten, kämpfen, verlieren die Contenance, verschlampen und verkommen, fressen, kauen spucken, defäkieren in der Öffentlichkeit, fuchteln mit Pistolen, den Stahlhelm aufgesetzt, oder die Krone (der Schöpfung? – Eine Illusion), kauen rohes Fleisch, die Männer, in der Überzahl, schleppen nackte Frauen als Fleischklumpen über die Bühne, die zusehends zum Misthaufen wächst, tote Tiere, Schutt und Geröll bedecken sie. Im Abendkleid wird ein Ball besucht. Noch scheint die Welt in Ordnung zu sein. © Charlesroi danse
Wie in jeder Vorstellung seit der Uraufführung, halten nicht alle Zuseher:innen den vorgehaltenen Spiegel aus. Sie flüchten. Die lauten Windmaschinen und das endlose Seil das, von einer elektrischen Spule über drei am Boden liegende E-Gitarren gezogen wird, erzeugt einen monotonen ins Gehör und die Gedärme dringenden Ton. Unangenehme, ja bedrohliche Gefühle beschweren Herz und Magen. Dem wollen sich auch mehr als 15 Jahre nach der Entstehung von „Umwelt“ nicht alle aussetzen. Auch wenn die reale Bedrohung längst näher gekommen ist.
Das Banale, ja Nette und Amüsante des Beginns der Vorstellung wird zusehends surreal, verwirrender: Wer ist Freund, wer Feindin, sind die Jäger die Gejagten? Der Aufstand droht, doch die Menschen in ihren zerschlissenen Kleidern sind müde, der Lärm kommt jetzt aus der Hölle, das Panorama endet im Chaos. Das wechselnde Licht erlischt. Der Schock bleibt. Alles bricht zusammen, Schutt und Geröll landen auf der Bühne. © mascarille.com
Marin hat die Mitwirkenden bewusst ausgewählt und Profitänzer:innen mit Laiendarsteller:innen gemischt, damit, wie sie sagt, „ein menschliches Panorama“ entsteht. Hoffnung auf das so einfach dahingesagte „Licht im Tunnel“ gibt sie uns nicht. Unausgesprochen aber ist die Mahnung da. Ob Krone, die den Kopf schmerzend bedrückt, oder blaues Sonnenhütchen, nur der Mensch kann das Rad zum Stillstand zwingen, nur der Mensch das bedrohliche Bohren des sich unaufhörlich abspulenden Fadens aufhalten.Am Ende ist die Umwelt zerstört, nur noch ein Müllhaufen. ©  mascarille.com

Auch wenn man diese zeitlosen und so ganz und gar zeitgebundenen flimmernden Filmbilder zum dritten Mal sieht, haben sie nichts an Kraft und Eindringlichkeit verloren. Maguy Marin, Tochter einer spanischen Widerstandskämpferin­­, die samt ihrer Familie nach Frankreich geflohen ist, beruft sich auf dieses Erbe. Sie ist nicht nur Tänzerin und Choreografin, sondern auch Widerstandskämpferin. Auf ihre kunstvolle Weise.

„Umwelt“. Konzept Choreografie: Maguy Marin. Tanz: Ulises Alvarez, Kosta Chaix, Kais Chouibi, Laura Frigato, Daphné Koutsafti, David Mambouch, Louise Mariotte, Isabelle Missal, Ennio Sommarco.
Musikdesign: Denis Mariotte; Lichtdesign: Alexandre Béneteaud; Sounddesign: Chloé Barbe; Bühnenbild: Pascal Bouvier; Kostüm: Nelly Geyres.
Koproduktion: Théâtre de la Ville de Paris, Maison de la Danse de Lyon, le Toboggan à Désines. Koproduktion 2021 : Charleroi Danse.
Fotos: Wenn nicht anders vermerkt © Hervé Deroo.
Neuproduktion, Premiere am 22. Juli 2021, Volkstheater im Rahmen von ImPulsTanz. Wiederholung am 24. Juli 2021.
„Umwelt“ war nach der Uraufführung 2006 und 2009 im ImPulsTanz Festival zu sehen.