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Tanz*Hotel: AAR – Term 18, Video-Performance

Olivia Hild: Nicht nur die Gletscher schmelzen.

Zwei Solos und ein Trio sind Anfang Mai im Residenz-Projekt des Tanz*Hotels / Bert Gstettner als Video zu sehen. AAR, Artist At Resort, ist ein Residenz / Coaching / Mentoring-Projekt für zeitgenössischen Tanz, das vom künstlerischen Leiter und Choreografen Bert Gstettner initiiert wurde und geleitet wird. Für die 18. Werkschau am Ende des jeweiligen Projekts hat Gstettner fünf Künstlerinnen begleitet, die beiden Solistinnen Olivia Hild und Elena Waclawiczek sowie das Trio Sebastian Bechinger, Imani Rameses & Lucia Rosenfeld. Sie haben ihre Arbeiten am 29. und 30. April vor ausgewähltem Publikum live gezeigt und auch ein Video produziert.

Olivia Hild sieht die Welt von unten. Eine Statue steht auf einem weißen Podest in einer Ecke. Die Figur steht auf dem Kopf, stützt sich mit den Füßen an der Wand des hellen Raumes ab. „_melt_“ (schmelzen) nennt Olivia Hild ihre Performance.  Kaum merklich löst sich die Gestalt allmählich von ihren Stützen, verlässt den Sockel, erobert den Boden des schmucklosen Studios, lediglich drei schwarze Lautsprecherleisten fangen den Blick ein und sorgen auch im Video für die raumfüllende, zarte Musikuntermalung. Die Tänzerin schlängelt sich auf dem Boden, wird zum sich stetig wandelnden Reptil, der Körper ist weich und schmiegsam, als würde er tatsächlich schmelzen. „_melt_“ ist der erste Teil eines mehrteilig angelegten Performance-Research zu Aggregatzuständen und deren "_melt_", Olivia Hild denkt über das Schmelzen von Gedankenstrukturen; über Atmung, Verbindung und Perspektive nach.Relationen zu Raum, Ökologie und Affekt. Deshalb kann sich die Tänzerin kurz halten, nach 16 Minuten ist „_melt_“ zu Ende. Für Metagedanken über schmelzendes Eis und Klimawandel bleibt kein Platz, zu sehr fasziniert die Körperarbeit der jungen Künstlerin, die ihre Tanzausbildung am MuK abgeschlossen hat. Zusätzlich hat sie in Israel an der Bezalel Academy of Arts and Design studiert.
Elena WaclawiczekElena Waclawiczek verbindet den lebendigen Körper mit dem Raum, der Materie und dem Klang. ist Choreografin und bildende Künstlerin, dementsprechend arbeitet sie in ihrem Stück „Imprints of Relations in Space“ (Abdrücke von Beziehungen im Raum) als Performerin in ihrer Installation. Die allein ist bereits einnehmend: Bahnen aus silbrigem Material teilen den Raum wie Paravents in schmale Gassen. Diese beweglichen, lichtdurchlässigen Wände werden immer deutlicher zu Tanzpartnern der menschlichen Performerin. Sie erscheint hinter ihnen als Schatten, lässt sie durch den Luftzug ihrer Bewegungen schwingen und flattern, und durch Berührung flüstern und rauschen. Die Bahnen bauschen sich, schwingen vor und zurück, ein Irrtum, zu meinen, die Performerin habe die Herrschaft über die Materie, immer von neuem macht sich diese selbständig, antwortet und agiert. Das klingt zwar ein wenig esoterisch, Elena Waclawiczek: die "Abdrücke von Beziehungen im Raum" sind zugleich Eindrücke.doch diese Beziehungen von Subjekt (dem Körper) und Objekten (die Materie der Installation, des Lichts und der Töne) ist recht konkret. Ein Stück, das in seiner gesamten Schönheit erst live auf der Bühne ganz zur Geltung kommen kann. Die Gedanken wandern zu lassen, bleibt kein Platz. Selbst auf dem großen Schirm des TV-Geräts ist das Zuschauen und Aufnehmen anstrengend, erfordert Geduld und Konzentration, in der Gemeinschaft des lebendigen Publikums fällt das leichter.  Dennoch: Diese "Abdrücke von Beziehungen im Raum" sind zugleich Eindrücke, die länger haften bleiben werden.
Mit dem Trio „Terra incognita“ (Sebastian Bechinger, Imani Rameses, Lucia Rosenfeld) kann ich weniger anfangen. Es scheitert an der Kluft zwischen abstraktem Denken und konkretem Ausdruck der Körper. Bechinger, Rameses und im Hintergrund Rosenfeld: Ratlos. Der Tanzkörper kann vieles erzählen und vermitteln, doch er hat seine Grenzen, bleibt immer konkret. So kann ich ohne die Erklärungen im Programmheft nicht entschlüsseln, was die drei, die offenbar, ohne einander zu kennen, auf einer Insel gelandet sind, hier mitteilen wollen. Ein schabendes Geräusch begleitet die Performance, die Performerinnen bewegen sich minimalistisch, werden zu Tieren, wenn sie sich auf alle Viere niederlassen. Bechinger erkundet den Boden, zählt an den Fingern ab und stellt sich, der Rückansicht eines Gekreuzigten gleich, an die hintere Wand. Rosenfeld kommt als letzte mit verhülltem Gesicht hinzu, gibt die dunkle Decke später an Rameses weiter. Im Programmheft ist zu lesen: „Erinnerungsinseln, die durch Bewegungsstrudel und -strömungen miteinander verbunden sind, suchen nach ihrer Entschlüsselung. Wir können an solchen Orten nicht erwarten, dass eine gerade Linie zu unserem Ziel führt.“
Vielleicht geht es darum, die Suche nach Entschlüsselung.


Tanz*Hotel / Bert Gstettner: AAR – Term 18. Studio 1 und 2 im Tanz*Hotel, Zirkusgasse. Video: 60 h online: 1.5.2021, 19 Uhr bis 4.5.2021, 7 Uhr.
„_melt_“: Konzept, Performance, Installation: Olivia Hild, Musik und Sound Design mit NASA Sun Sonification: Daniel Slabosky. Outside Eye: Inge Gappmaier.
„Imprints of Relations in Space“: Konzept, Performance, Installation: Elena Waclawiczek, Kostüm-Mitarbeit: Hanna Adlaoui-Mayerl.
„Terra incognita“: Konzept, Performance: Sebastian Bechinger (Projekt-Initiative), Imani Rameses, Lucia Rosenfeld.
AAR-T*H Team: Auswahl, künstlerische Begleitung und Mentoring aller Projekte: Bert Gstettner. Video: Sigrid Friedmann, Ulrich Kaufmann. Technische Leitung, Licht: Alexander Wanko. Organisation: Claudia Bürger.
Fotografie: Martina Stapf