Mei Hong Lin / TANZLIN.Z: Bilder einer Ausstellung
Ein Meisterwerk ist Mei Hong Lin, Direktorin von Tanzlin.z mit ihren eigenen Bildern zu Modest Mussorgskis Komposition „Bilder einer Ausstellung“ gelungen. Auf der Bühne außerdem der Pianist Stefanos Vasileiadis und Randomhype (Christian Düchtel). Mit großer Begeisterung ist der Tanzabend „Bilder einer Ausstellung“ von Mei Hong Lin | Modest Mussorgski | Randomhype am 26. September im Musiktheater Linz vom, allen Regeln folgend, vollzählig erschienen Publikum aufgenommen worden.
Es ist naturgemäß ein trauriges Ballett geworden, das Lin in den Sinn gekommen ist, als sich für sie, getrennt von ihrer Compagnie, die Corona bedingte Isolation, „wie eine Reise angefühlt hat, eine Reise in sich selbst hinein, in die Vergangenheit bis in die Gegenwart,“ sagt sie im Gespräch mit Dramaturgin Roma Janus. Lin hat über ihre alten Stücke nachgedacht „und Lust bekommen, aus den älteren Choreografien neue Geschichten und choreografische Interventionen zu schaffen. Neues zu schaffen.“
Zehn Bilder analog der 10 von Mussorgski in Musik verwandelten Bilder und der einleitenden und verbindenden „Promenade“. Die Bilder seines verstorbenen Freundes Viktor Hartmann hat der Komponist in einer großangelegten Ausstellung in St. Petersburg gesehen. In Erinnerung an den Maler ist 1874 der Klavierzyklus entstanden. Archaisch, wild und aggressiv ist diese alle ästhetische Übereinkunft über Bord werfende Musik, erst mit Ravels Bearbeitung für Orchester 1922 so richtig bekannt geworden. Stefanos Vasileiadis, als Korrepetitor bei Tanzlin.z die Compagnie und ihre Mitglieder genau kennend, lässt diese glättende Orchesterfassung Ravels vergessen, sie klingt plötzlich viel zu dick, zu romantisch. Er hat die Noten der Partitur im Kopf, spielt am Piano bei offenem Deckel, damit er auch in die Saiten greifen kann. Hart und rau, bedrohlich klingt gleich die einleitende Promenade, bei der das Ensemble in den fantasievollen, bunten Kostümen von Julio Andrés Escudero, der als Tänzer mit Lin von Darmstadt nach Linz übersiedelt ist, sich aber nun vor allem der Choreografie und dem Modedesign widmet, auf der Bühne zu sehen ist, bis alle durcheinanderwirbeln und nur der Gnom übrigbleibt. Erst nach dem Läuten der Glocken im Turm am „Großen Tor von Kiew“ (ein nie ausgeführter architektonischer Entwurf eines „Kiever Stadttores mit kleiner Kirche“ von Hartmann wird im Puschkin-Haus / St. Petersburg aufbewahrt) und einem musikalischen Rückblick auf die Ausstellung sind auch die Bilder Mei Hong Lins noch einmal in Gestalt der Tänzer*innen zu sehen. Nicht nur gemäß der Corona-Regeln, wohl auch, um Melancholie, Trauer, Hilflosigkeit und Scheitern der Liebesbeziehungen auszudrücken, tanzen selbst Paare in den Szenen auf Abstand. Berührungen zwischen den Tänzerinnen und Tänzern finden kam statt. Das tut weh.
Manchmal, in schönen Pas de deux, kommen sie einander, doch sie finden nicht zusammen. Mächtige Könige streiten um die Macht, Angst und Misstrauen herrschen, selbst die Lebensfreude Jugendlicher (in den „Tuillerien“ spielend) hält nicht lange, die Erwachsenen zeigen ihnen, was auf sie wartet: Probleme und Sorgen. Immer wieder haben Kenner*innen von Lins Balletten dieses erhellende Gefühl eines Déjà vu. Täuschung ist das keine, Lin erinnert ihr Publikum tastsächlich an bereits bekannte Figuren und Szenen aus ihren Stücken. Das Ensemble glänzt gemeinsam, in Solos und Duos, präzise, perfekt, mit Engagement und sehr viel Gefühl, wie Mei Hong Lins Bilder es verlangen.
Dass diese Bilder eher meist schwarze Gefühle vermitteln, liegt auch an der Musik, deren Düsternis durch Randomhype verstärkt und kontrastiert wird. Der Sunddesigner interagiert mit dem Pianisten, nimmt Themen des Klaviers und Stimmungen auf der Bühne, weitet sie aus, verändert sie, manchmal schweigt Pianist Vasileiadis, dann mischt er sich wieder ein. So entsteht durch die Interaktion zwischen den Tänzer*innen und den Musikern Einheit und Spannung zugleich, was Randomhype als „Dreieck“ wahrnimmt. Das betrifft die Ohren, für die Augen ist es ein anderes Dreieck – die Bühne, die diesmal nur ein schmaler, weißer Steg ist, auf dem das, auf den beiden Längsseiten sitzende Publikum mit den Augen an den Bildern vorbeiwandert; die fabelhaften Kostümen der 20 Tänzer*innen und das Lichtdesign von Johann Hofbauer, das den Steg in mehrere Ausstellungsräume verwandelt und jegliche Bühnendekoration ersetzt.
Ein wunderbarer Abend, gefühlvoll und anregend, aber auch etwas trist und niederdrückend. Ein Hoffnungsstrahl hätte gut getan. Doch den sehen wir möglicherweise im März, wenn Mei Hong Lin und Tanzlin.z Bilder von Liebesbezeugungen in Briefen zeigen.
„Bilder einer Ausstellung“, Tanzabend von Mei Hong Lin. Musik von Modest Mussorgski; Sound von Randomhype. Bühne und Kostüm: Julio Andrés Escudero; Lichtdesign: Johann Hofbauer; Live Electronic: Randomhype, Pianist: Stefanos Vasileiadis. Dramaturg: Roma Janus, Thorsten Teubl. Uraufführung: 26. September 2020. Musiktheater Linz.
Fotos: Laurent Ziegler
Nächste Termine: 30. September, 4., 10. Oktober 2020. Letzte Vorstellung 2020: 15. November.
Vorschau: Liebesbriefe: „Ich kann mit Worten dir’s nicht sagen“, Tanzstück von Mei Hong Lin. Uraufführung: 6. März 2021.