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Wiener Staatsballett im Neujahrskonzert 2020
Wenn die Kamera auf die schwellenden Brüste der Karyatiden im Goldenen Saal blendet oder am Plafond hängen bleibt, dann ist endlich das Wiener Staatsballett an der Reihe, oder ganz pragmatisch, die Magnetaufzeichnung wird abgefahren. Natascha Mair und Denys Cherevychko machen den Anfang im Winterpalais des Prinzen Eugen, wo vor gar nicht langer Zeit das Finanzministerium residiert hat. Das fließende Kostüm von Mair, entworfen von Emma Ryott, entpuppt sich als Morgenmantel, und während sich Mair in ein knallrotes Ballkleid wirft, probiert Cherevychko allein zaghafte Sprünge.
Lange bleibt das junge Paar nicht allein: Schwungvoll walzt Nina Tonoli (seit Herbst 2019 leider nicht mehr in Wien, sondern im Dutch National Ballet) mit Davide Dato über das spiegelnde Parkett, Robert Gabdullin lässt sich von Madison Young, in schwarzer Robe, auf dem roten Teppich im Stiegenhaus verführen. Konventionell und elegant wie die Choreografie von José Carlos Martínez sind auch die Kostüme. Diesmal wird nicht über Stiegen gehopst, sondern durch die Saalfluchten gelaufen. Eine nette Abwechslung zu Streicherhänden und Bläserbacken, doch mit nur drei Paaren etwas reizlos, trotz der Walzerseligkeit mimenden Tänzer*innen. In bewährter Manier behält die Moderatorin, Barbara Rett, die Namen der Tänzer*innen als Geheimnis bei sich. Der Tanz ist beim Neujahrskonzert nur eine möglichst billige Draufgabe.
Amüsanter ist es bei den Kontretänze von Ludwig van Beethoven, aufgezeichnet unter freiem Himmel. Am Heiligenstädter Pfarrplatz scheint die Sonne, was den beiden Paaren, Jakob Feyferlik mit Olga Esina und Roman Lazik mit Ketevan Papava, gut gefällt, auch wenn sie mehr als einen Stolperstein unter den flinken Füßen spüren. Es scheint, sie genießen den Sommer auf der Straße und in den Höfen der berühmten Heurigengegend und erklimmen auch die biedermeierlichen Pawlatschen. Von der Dame mit Hut und Hund, die im Hintergrund die Gasse auf und ab spaziert, lassen sie sich nicht irritieren. Abwechslung muss sein. Die bringt auch Beethoven, denn die einzelnen Tänze (6 von insgesamt 12, einem Werk ohne Opuszahl) sind recht kurz, doch überaus kurzweilig. Der Aufzeichnungstag war sommerlich warm, die Tanzenden zeigen beste Laune, sodass auch der Hund von der Tanzlust gepackt wird. Er reißt sich von der Leine und stellt sich zum Gruppenfoto mit den beiden Paaren auf. Vielleicht geht er nach getaner Arbeit mit ihnen auch zum Heurigen. Das fernsehende Publikum in aller Welt ist befriedigt, nächstes Jahr kommt ein Kleinkind dazu.
Halt! Am ersten Tag des Jahres wird nicht gemeckert. Das Neujahrskonzert samt Fernseheinlagen ist ein Marketingartikel wie eh und je. War es doch schon bei seiner Geburt am 31. Dezember 1939 als Sonderkonzert „Bestandteil von Joseph Goebbels Propagandamaschinerie“ (Fritz Trümpi, Schweizer Musikhistoriker). Erst das zweite Konzert fand (1941) am Neujahrsmorgen statt. Seit 1959 sind neben den Mikrofonen auch Fernsehkameras im Einsatz; seit 1991 wird nicht nur der 2. Teil übertragen, sondern das gesamte Konzert. Daher muss es in der Pause den Pausenfilm geben, nicht unbedingt ein Divertissement, eher laufende Bilder aus einem Werbeprospekt.
Dieser, wie die in die Jahre gekommene Veranstaltung, wird alljährlich von Abermillionen Seher*innen und ebenso vielen Hörer*innen genossen und gehört auch in vielen heimischen Haushalten zur Tradition. Sony Music freut sich auch, ab 10.1. ist die CD und ab 31.1. auch eine DVD mit Andris Nelsons als Dirigent erhältlich. Die Ballettauftritte sind nur eine flüchtige Einlage. Tänzer gehören ohnehin auf die Bühne, wir sehen sie live und sie selbst spüren den Kontakt zum Publikum, und die Emotionen vermitteln sich direkt, wirken nicht, wie bei einer Aufzeichnung, aufgemalt und eingefroren.
Dort, auf der Bühne der Staatsoper, wird das großartigen Ensemble des Wiener Staatsballetts auch demnächst zu sehen sein. Sie sind in John Crankos Choreografie „Onegin“ nach Alexander Puschkin zu bewundern. In der Titelrolle: Robert Gabdullin (Rollendebüt), Roman Lazik und Eno Peçi. Die von Onegin anfangs gar nicht, aber von Fürst Gremin unsäglich geliebte Tatjana verkörpern Nina Poláková und Ketevan Papava. Den Dichter Lenski tanzen Denys Cherevychko, Davide Dato und Jakob Feyferlik (Rollendebüt). Nicht zugleich, versteht sich, sondern an unterschiedlichen Abenden.
Unerwiderte Liebe und edler Verzicht, fröhliche Feste und getanzte Gefühle, der Neujahrstag, ob mit oder ohne Ballett, ist längst vergessen.
Neujahrskonzert 2020. 80. Matinee, 62. Fernsehübertragung, 1.1.2020. Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons, Musikverein.
Balletteinlagen: Choreografie José Carlos Martínez, Kostüme: Emma Ryott. Tänzer*innen: Walzer von Johan Strauß: Madison Young und Robert Gabdullin, Nina Tonoli und Davide Dato, Natascha Mair und Denis Cherevychko. Sechs ausgewählten Kontretänzen aus Ludwig van Beethovens „12 Kontretänze für Orchester WoO 14“: Olga Esina und Jakob Feyferlik, Ketevan Papava und Roman Lazik; Dame mit Hund.
Hinweis: John Cranko: „Onegin“, Termine: 8., 11., 13., 17., 23., 26. Jänner 2020. Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Fotos: ORF/ Günther Pichlkostner, Thomas Jantzen