Damit du dich im Viertel nicht verirrst
Patrick Modiano erzählt in seinem jüngsten Roman von Jean Daragane, der, wie die Figuren Modianos so oft, auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist. An die Kindheit erinnert er sich nur bruchstückhaft, doch neuerdings tauchen Namen und Personen aus seinem Gedächtnis auf, die er längst vergessen wähnte.
Der Schriftsteller Jean Daragane hat sein Adressbuch verloren, doch das macht ihm keine Sorgen, denn die Telefon-Nummern, die er da aufgeschrieben hat, sind vermutlich längst tot, womöglich die Besitzer_innen auch. Jedenfalls hat er sie alle seit Jahrzehnten nicht gesehen. Doch dann erhält er einen sonderbaren Anruf. Von einem Mann, der das alte Büchlein gefunden hat und darauf besteht, es Daragane persönlich zurückzugeben. Einer der eingetragenen Namen ist ihm ins Auge gestochen, jetzt möchte er von Daragane mehr über den Mann wissen. Der Fremde und seine Freundin lassen nicht locker, verfolgen Daragane regelrecht, er kann sich ihnen nicht entziehen.
Ein Kriminalroman könnte so beginnen. Der Schein trügt. Es sind die ersten Seiten eines Romans von Patrick Modiano und in diesem, wie in allen des Nobelpreisträgers, gibt es viele Geheimnisse aber keine Mörderjagd und keine Detektive. Dennoch geht es um Recherchen und Nachforschungen, doch die finden im Gedächtnis von Daragane statt. Der erinnert sich nach einigem Nachdenken und der Lektüre eines sonderbaren Manuskriptes, das ihm die Freundin des undurchsichtigen Mannes gegeben hat, an seine Kindheit und seine junge mütterliche Freundin, die er 20 Jahre später wieder gefunden (und verloren) hat. Von ihr hat er den Zettel auf dem der kryptische Satz steht, den der Autor als Titel seines jüngsten Romans gewählt hat. ;
Auf drei Zeitebenen erzählt Modiano Daraganes Suche nach der verlorenen Zeit und diese drei Ebenen verschwimmen und überlagern sich. Die Leserin wandert im Nebel und streift mit Daragane durch Paris, eingehüllt in die sanften Wolken der Melancholie.
Daragane taucht in die Vergangenheit und erweckt deren Geister wieder zum Leben. Schon früher hatte er Morsezeichen mit seinen Romanen gesendet, verständlich nur für die Betroffenen, um die junge Frau wieder zu finden, bei der er als Kind glücklich war. Jetzt, nachdem der Fremde in wieder zurückversetzt hat, bereist er sogar die Orte seiner Kindheit. Und doch findet er nur zusammenhanglose Stücke, das Puzzle wird nicht fertig. Dennoch bleibt die Vergangenheit seine einzige Gefährtin.
Ein typischer Modiano, ein schöner Modiano, in dessen Welt man sich ebenso verlieren kann, wie Daragane in der Vergangenheit. Ein echter Modiano, kurz und dicht über das Vergessen und das Erinnern.
Patrick Modiano: "Damit du dich im Viertel nicht verirrst". Übersetzt von Elisabeth Edl. Hanser, 2015. 160 S. € 19,50.
Bestellen.
Lust auf mehr? Buchkultur vermittelt Literatur.