Dennis Lehane: „Der Abgrund in dir“, Roman
In diesem neuen Roman stellt der amerikanische Autor Dennis Lehane zum ersten Mal eine Frau in den Mittelpunkt, Rachel Childs. Für Liebhaberinnen Lehanes, dessen Romane, etwa „Mystic River“ (Deutscher Titel „Spur der Wölfe“) oder „Shutter Island“ erfolgreich verfilmt worden sind, eine Überraschung, gar kein typischer Lehane. Entgegen seinem bisher linearen Stil beginnt Lehane den Roman mit einer Reihe von schockierenden Szenen, Puzzleteile, die sich erst im Lauf der Erzählung zusammenfügen. Rachel versucht herauszufinden, wer sie ist. Am Ende wissen es zumindest die Leserinnen.
Die Mutter, eine narzisstische, nahezu sadistische Person, die ihre vaterlos aufwachsende Tochter zu zerstören versucht. Rachels Suche nach dem Vater wird am Ende belohnt, doch nicht so, wie sie es sich gewünscht hat. Sie reiht sich nahtlos in die Liste von Lehanes Charaktere ein, die schon niedergeschlagen werden, bevor sie überhaupt zum Kampf antreten.
Rachel heiratet einen Fernsehproduzenten in Boston (woher auch Lehane kommt), der ihre Karriere als Fernsehreporterin benutzt, um selbst erfolgreich zu sein. Als sie bei einer Reportage über das schwere Erdbeben in Haiti (2010) ob der erschütternden Folgen der Naturkatastrophe einen Nervenzusammenbruch erleidet, lässt er sie eiskalt fallen. Rachel muss ihren Job aufgeben, sie zieht sich in ihre Wohnung zurück und verlässt sie 18 Monate lang kaum.
Als sie allmählich wieder lebendig wird, nimmt sie die Beziehung zu dem gutaussehenden, einfühlsamen Brian, einem flüchtig Bekannten, wieder auf und heiratet ihn schließlich. Von da an ist es vorbei mit Epik und Philosophie, im zweiten Teil steigt die Spannungskurve von Kapitel zu Kapitel. Die Ehe scheint glücklich, doch was Rachel nicht sieht, oder nicht wahrhaben will, ist der zwielichtige Charakter Brians und die zahlreichen Ungereimtheiten in seinem Leben und Treiben. Hitchcock stand Pate in dieser Beziehung, in der mehr Vorsicht und Misstrauen angebracht wären.
Die vielen Fallen, die er aufstellt, die Schockelemente, die er anwendet, die Volten, die er schlägt, lassen vermuten, dass der Autor bereits beim Schreiben seines Romans an die Verfilmung gedacht hat. Mit Erfolg, die Rechte sind bereits vergeben, das Drehbuch hat Lehane selbst geschrieben.
Das Ende klärt den Anfang auf, es ist eben nichts, wie es scheint. Und Rachel, die lieber mit der Lüge lebt, als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, ist keine Ausnahme. Offenbar funktioniert die Welt auf diese Weise besser.
Der Titel des 2017 in New York erschienenen Thrillers ist übrigens einem Song aus den 1940er Jahren entlehnt, „Since I Fell for You“. Als das Thema „Vertrauen“ längst ihre Ehe mit Brian beherrscht, tanz sie mit ihm zu diesem Lied, in dem Lokal, in dem sie einander kennen gelernt haben. Dieser Song, so Lehane, „handelt weniger von der Liebe als von der Klage eines Menschen, der sich hoffnungslos in eine Person verliebt hat, die ihn – oder sie, je nachdem, welche Version man hört – letztlich zweifellos zerstören würde.“ Rachel bestellt sich das Video von einem unbekannten Film, mit unbekannten Darsteller*innen, doch mit der Songzeile im Titel. Nicht nur Rachel, auch die Leserin erlebt eine Überraschung.
Dennis Lehane, erzählt, dass er zu seiner Geschichte von John Irvings Roman „Witwe für ein Jahr“ inspiriert worden ist . Auch Irving hat in diesem Roman, erschienen 1999, zum ersten Mal eine Frau in den Mittelpunkt gerückt. Allerdings ist Irving weit davon entfernt, einen Thriller zu schreiben, und so ist sein Thema nicht Verrat und Misstrauen, sondern die Suche nach der Liebe und, im konkreten Fall, auch nach der verlorenen Mutter. Dementsprechend versöhnlich ist das Ende, was ich über „Since we fell“ nicht sagen kann. Doch auch das Leben hält zufriedenstellende Schlussakte selten bereit, Liebe und Verrat müssen einander nicht ausschließen. So kann Dennis Lehanes niveauvoller Roman, wie auch alle vorangegangenen, Thrillerfreundinnen nur wärmstens empfohlen werden. Lesevergnügen, auch dank des Übersetzerduos, mit hohem Spannungsfaktor und jeder Menge Stoff zum Nachdenken.
Dennis Lehane: „Der Abgrund in dir“, aus dem Amerikanischen von Steffen Jacobs und Peter Torberg, Diogenes 2018. 525 S. € 25,70.