Alex Capus: „Königskinder“, Roman
Tina und Max umfahren mutwillig die Absperrung zur Straße auf den Jaunpass und befinden sich bald mitten im Winter. Je höher sie in hrem kleinen Auto die Haarnadelkurven hinaufklettern, desto dichter wird der Schneefall. Um nicht im Graben zu landen, müssen sie stehenbleiben, warten, bis Hilfe kommt. Damit die bald hereinbrechende Nacht schneller vergeht, erzählt Max eine Geschichte, eine Liebesgeschichte aus dem 18. Jahrhundert. Wahr, bestens recherchiert und stimmig.
Zwar meint Max, alias Alex Capus, dass „es gar nicht so wichtig ist, ob eine Geschichte wahr ist oder nicht. Wichtig ist, dass sie stimmt.“ Doch diese Geschichte ist wahr und stimmig. Alex Capus bereitet seinen Leserinnen doppeltes Vergnügen, wie so viele seiner Geschichten, die er nach akribischer Recherche und Studium alter Dokumente erzählt. Diesmal wieder einmal eine Liebesgeschichte. Eine Liebe auf den ersten Blick, die alle Hindernisse überwindet und während draußen die Welt in Brüche geht, ihr glückliches Ende findet. Es ist der etwas sonderbare Kuhhirt Jakob Borschung, der sich in Marie, Tochter des reichen Bauern im Tal, verliebt. Dass Maries Vater das unbedingt verhindern will, treibt Jakob nach Frankreich.
Die Geschichte beginnt 1779 als Jakob 22 Jahre alt ist und auf einer Alm im Greyerzerland in der französisch sprachigen Schweiz lebt. Nach einer wenig geliebten Zeit als Söldner bei den Franzosen, wird er von Elisabeth, der Schwester Ludwig des XVI., wieder in den Kuhstall geholt. Elisabeth hat die Idee, die Welt mit einem Modell-Paradies samt Biobauernhof zu verbessern. Während außerhalb der Mauern von Versailles das hungernde Volk bereits den Aufstand vorbereitet, hütet Jakob glückliche Kühe und offeriert Elisabeth täglich einen Becher Milch . Daneben hat er Zeit genug, sich dem sehnsüchtigen Warten auf Marie hinzugeben. Dem einstweilen noch satten und gelangweilten Adel gefällt der komische Bursche, der ganz frech seine Kühe immer näher ans Schloss heranführt, Elisabeth ist entzückt von seiner unverbrüchlichen Liebe und Treue und lässt ihren Bruder, noch für kurze Zeit der Kaiser, dem Vater Maries einen Brief schreiben. Gegen den Wunsch eines Königs kann sich der Bauer, nach 10 Jahren etwas milder geworden, nicht wehren. Marie darf lange Reise nach Versailles antreten, und endlich findet eine Hochzeit statt. Die Königskinder sind, anders als in der traurigen Ballade, endlich zusammengekommen.
Und damit ist es Morgen geworden auf dem verschneiten Pass, der Schneepflug kommt, doch der Fahrer will die beiden Gestrandeten nicht sehen. Sie müssen sich zu Fuß auf den Weg machen und für ihren Übermut auch noch Strafe zahlen.
Wunderbar leicht erzählt Capus von dieser in den Annalen gefundenen Liebe am Abend vor der französischen Revolution. So erzählt der Autor nicht nur eine süße Geschichte, sondern auch Historie, auch wenn das glückliche Paar von dem, was sich außerhalb ihres Paradieses abspiel,t nichts mitbekommt. Sie sind einander genug. Den Leserinnen werden aber genügend Blicke über die Mauern ermöglicht, bis hoch in den Himmel, wo die Montgolfieren in allen möglichen Gestalten gondeln.
Damit aber niemand meint, billige Kolportage vorgesetzt zu bekommen, gibt es ja eine zweite Geschichte als Kontrapunkt, und die spielt heute und handelt ebenfalls von der Liebe, der von Max und Tina, die sich in den großen Dingen des Lebens einig sind, aber über die kleinen seit 26 Jahren streiten. Damit Max bei seiner Erzählung nicht in kitschiges Pathos verfällt, besteht Tina immer wieder auf Genauigkeit und Wahrheitstreue, was mit ihren sinnlosen, aber gut eingeübten Diskussionen die nötige Fröhlichkeit und auch einiges Identifikationspotential in die Lektüre fließen lässt.
Ein Roman, der zwischen den Jahrhunderten oszilliert und Geschichte ebenso transparent macht wie das alltägliche Leben. Alex Capus ist ein Erzähler von hohem Rang. Aber das wissen alle, die ihn gierigen Augen und leichtem Herzen seit der Begegnung mit dem „Munzinger Pascha“ verfolgen.
Alex Capus: „Königskinder“, Hanser 2018. 186 S. € 21,60.