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Tom Saller: „Wenn Martha tanzt“, Roman

ReBauhaus in Dessau. Rekonstruktion.Wiki.com.

Tom Saller ist kein ganz junger Mann mehr und hat doch ein Debüt zu feiern. Er hat seinen ersten Roman geschriegben und hat mich schon mit wenigen Sätzen überzeugt, dass er nicht nur erzählen kann, sondern auch Stilbewusstsein und feinen Humor hat. Nach dem Schulabschluss hat er Medizin studiert und ist nun Psychotherapeut in der Nähe von Köln. In seiner Freizeit macht er Musik, meist auf dem Saxophon. Der Debütroman ist eine Überraschung, und voller Überraschungen steckt auch die Geschichte von Martha, die der 50jährige zu erzählen hat.

Martha ist eine fiktive Person und wohl auch der Erzähler, der sich als sympathischer, nachdenklicher junger Mann ein Jahr nach dem Tod seiner Großmutter auch selbst in Marthas Leben, die seine Urgroßmutter ist, einmischt. Doch es gibt eine Reihe von Personen, die in jedem Lexikon zu finden sind, wenn denn heute noch jemand in einem Lexikon nachschlägt. Doch auch in Bauhaus-Signet. © wikimedia commons Wikipedia ist einiges über Feininger und Itten, Schlemmer und Gropius und all die anderen Herren zu finden. Sie lehrten zu Beginn des 20. Jahrhunderts am legendären Weimarer Bauhaus, das von Walter Gropius 1919 als Kunstschule gegründet worden ist. Den verknöcherten Professoren an der Akademie wollte das nicht recht gefallen, den immer mächtiger werdenden Nationalsozialisten schon gar nicht.

Doch das muss ich alles nicht erzählen, jede kann es nachlesen oder sich im Roman die ersten Informationen holen. Denn die genannten Herren samt einigen anderen sind nicht ausgedacht,sinnlos und was sie taten und sprachen, wie sie sich vertrugen auf dem Weg zum gemeinsamen Ziel und stritten, weil das Ziel dann doch für jeden ein anderes war, wie sie kamen und gingen, das hat sich Saller nicht ausgedacht, und wenn doch, dann ist es perfekt erfunden und niemand kann ihm widersprechen. Autor Tom Saller. © Anett Kürten / List Verlag

Auch interessante Frauen begegnen mir in der Welt rund um das Bauhaus, nicht nur Marthas Lehrerin in der Bühnenwerkstatt, die Musikpädagogin Gertrud Grunow. Ich bin gefangen von der Hauptperson Martha, der Tochter eines Musikers, aus Pommern, die eine bekannte Tänzerin wird und der Fotografin Ella Held (Beyer-Held). Deren Vater ist auch nahezu 100 Jahre nach seinem Tod als Foto-und Filmpionier verehrt und diese Verehrer*innen wissen auch um seine Tochter Ella, die ebenfalls das Fotohandwerk erlernt hat und 1918 als erste Frau in Thüringen den Meistertitel als Fotograf (!) erhalten hat. Der eigensinnigen, lebenslustigen und tüchtigen Ella ist keine Wiki-Zeile gewidmet, sie muss sich mit einer Erwähnung im Artikel über ihren Vater begnügen. Um bei der Wahrheit zu bleiben, der Autor (der echte, nicht der erfundene Erzähler) gibt ja zu, dass er Ella nach persönlichen Vorstellungen gestaltet hat, da scheint mir eben die Romanfigur interessanter, als die historische tatsächlich war.
DerTaucher, Figur aus dem "Triadischen Ballett" von Oskar Schlemmer. © https://www.pinterest.de/i0301/oskar-schlemmer-triadisches-ballett/?lp=trueDoch solange Martha in Weimar weilt, ist Ella als wichtige Person anwesend. Auch später, als die Bauhaus-Bewegung mit Mann und Maus aus Weimar vertrieben wurde und Martha wieder zu Hause in Türnow weilt, ist Ella stets präsent, doch nur in Marthas Herzen. Im Arm hat sie einen Säugling. Es ist ein Mädchen und wird Hedi gerufen. Die Großmutter des Erzählers. Bald verheeren die Nazis ganz Europa und die Seelen der Menschen und Martha muss mit dem Kind aus Pommern flüchten. Die Eltern haben es befohlen. Die Reise endet tragisch, Martha verliert ihre Tochter. Thomas, der als Icherzähler den Rahmen für Marthas Tagebuchgeschichten, die 1945 abrupt zu ende sind, bildet, hat seine Urgroßmutter nie kennen gelernt. Großmutter Hedi hat er als Kind gern besucht. Sie wusste nichts vom Tagebuch ihrer Mutter, Thomas hat es, eingenäht in ihren alten Rucksack, gefunden.

Es ist sinnlos, den gesamten wunderbaren Roman zu erzählen. Wozu auch? Man muss ihn lesen, die klaren Sätze auf der Zunge zergehen lassen, Marthas so feinsinnig beschriebene Begabung nachfühlen und mit der musikalische Familie Martha, samt jeder Menge Schüler, die die für Kost und Logis auch die Dorfmusik bilden, am Esstisch sitzen. Denn auch wenn es fast immer nur Steckrüben gibt oder leere Suppe, für eine wird schon noch Platz sein. Der verstorbene Bruder Marthas, Heinzchen, sitzt ja auch da, doch der isst nichts.Mies van der Rohe: Barcelona Sessel, 1929. Der Architekt und Designer war nach der Schließung des Bauhauses in Weimar, Direktor des neuen Hauses in Dessau. Der Sessel ist noch immer in so manchenm Whnzimmer zu finden. © Knoll

Der Therapeut Saller kann natürlich mit den Menschen, Männern wie Frauen, umgehen und sie auch feinfühlig und empathisch beschreiben. Alle seine Personen, ob historisch oder fiktiv, sind höchst lebendig und auch die neuen Ideen und Ziele der Bauhauskünstler sind plastisch und präsent. Sofort bekomme ich Lust, wieder einmal das „Triadische Ballett“ (Oskar Schlemmer) zu sehen oder über Johannes Itten nachzulesen, der auch in Wien unterrichtet hat, vor allem Frauen, die damals noch keine Aktklassen besuchen durften und daher unter seiner Anleitung ihre Bilder nach den neuen Regeln mallten. Natürlich auch Tanzimpressionen, auch wenn sie Martha nie gesehen haben. Immer wieder bin ich während der Lektüre versucht, Martha Wetzlaffs Daten nachzuschlagen. Kein Sachbuch, doch ein intelligenter Rman, der auch Wissen vermittelt. Buchcover @ List VerlagVergeblich. Sie ist eine Romanfigur. Doch ich meine sie zu kennen, sehe sie neben mir, so wie sie selbst Klänge sehen konnte. Der Autor hat ihr die Gabe der Synästhesie geschenkt, so wie sie der Maler Wassilij Kandinsky kannte, der sich wie viele andere in Marthas Logbuch verewigt hat.

Genug jetzt. Eigentlich genügt ein Satz: Ein wunderbares Buch, gescheit und fesselnd, ohne Manierismen, poetisch und bewegend und gerade passend zum Jubiläum der Bauhaus-Bewegung, das 2019 gefeiert wird. Aber bei aller Sachkundigkeit des Autors und Lebendigkeit des Personals, Saller hat kein Sachbuch geschrieben, sondern einen Roman.
Das sollten besserwissende Trolle bedenken.

Tom Saller: „Wenn Martha tanzt“, List 2018, 288 S. € 20.60.