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Andrea De Carlo: „Ein fast perfektes Wunder“

Autor Andrea De Carlo. © YouTube-LaFeltrineli-Feltrinellit

Mit seinem 19. Roman hat sich der Mailänder Autor Andrea De Carlo in der Beliebtheitsskala noch höher an die Spitze geschraubt. Nicht nur bei den italienischen Leserinnen. „L’imperfetta meraviglia / Ein fast perfektes Wunder“ ist eine gefühlvolle, doch keineswegs sentimentale Komödie, die vom Genuss des flüchtigen Augenblicks schwärmt und das Leben feiert, wie es ist, kurz und vergänglich. Ein wunderbarer Roman, der unterhält und ein wenig nachdenklich macht.

Erzählt der 37jährige Autor in seinem Roman „Due di Due / Zwei von Zwei“ von den unterschiedlichen Lebensentwürfen zweier Jugendfreunde, die einander als Pubertierende in den frühen Sechziger-Jahren kennenlernen und trotz der konträr verlaufenden Lebenswege über den Tod hinaus Freunde bleiben, so widmet sich der heute 65jährige zwei reifen Menschen, die einander für kurze Zeit begegnen und für drei Tage höchste Übereinstimmung und Glück erfahren. Ein nur fast perfektes Wunder.Das Original-Titelplatt von "L'imperfetto meraviglia" © Giunti Editore Doch genau diese Unvollkommenheit ist doch das Wunder. Auf die Frage Nicks, „warum unvollkommen“, antwortet Milena „weil es nicht dauert.“
In dieser Unvollkommenheit liegt der ganze Zauber.

Milena Migliari, eine nach Südfrankreich verpflanzte Italienerin, hat sich der Erzeugung von Eis verschrieben, doch auch dieses dauert nicht ewig, verliert an Frische und Geschmack, schmilzt dahin. So nennt sie ihren Eissalon auch „“L’imperfetta meraviglia / Das fast perfekte Wunder.“ Das Publikum und die Gastrokritik aber empfinden Milena Migliaris Gelato als unnachahmliches, wirklich perfektes Wunder.
Andre De Carlo, fotografiert von Angela Schipioni. © Diogenes Verlag Ein Wunder geschieht auch am 15. November 2015, als in Fayence der Strom ausfällt und Milena Migliari fürchten muss, dass ihre mit Mühe, Akribie und Fantasie hergestellten Eiskreationen davonschwimmen werden. Ein Anruf vom Grundstück des alternden Rockstars Nick Cruickshank erlöst sie von ihren Sorgen. Zehn Kilo Eis soll sie nach Callian liefern. Milena Migliari glaubt es kaum, doch sie liefert und begegnet Nick Cruickshank, kreischend gefeierter Leadsänger der britischen Rockband „Bebonkers“. Er  kann das Wunder schmecken, ist bezaubert und will die Schöpferin kennen lernen.

Fayence, wo MilenaMigliari ihren Eissalon hat. © Alain MengusZwei Seelen im Gleichklang. Zwei schöpferische, fantasievolle Menschen, die ganz iür ihre Kunst leben, begegnen einander. Und es knallt. Die schüchterne, nicht sonderlich attraktive Milena Migliari (der Autor nennt sie durchgehend mit ihrem ganzen alliterierten Namen), die es nach wenig erfolgreichen Abenteuern mit Männern nun mit einer Frau versucht, die ihre gefrorenen Kunstwerke nicht besonders wichtig nimmt und Nick Cruickshank, Star einer noch immer gefeierten Rockband, deren alternde Mitglieder sich in Streit und Hader gegenseitig aufreiben, spüren unvermittelt den Gleichklang ihrer Gedanken, Wünsche und Sehnsüchte.
Sowohl Milena Migliari als auch Nick stehen vor einer Weggabelung. Er bereitet neben einem Großkonzert auf dem Flugfeld von Callian auch seine dritte Hochzeit vor. Sie soll auf Wunsch ihrer Partnerin nach künstlicher Befruchtung ein Kind austragen und gebären. Weder Nick Cruickshank noch Milena Migliari gestehen sich wirklich ein, dass sie lieber allein abzweigen würden, als die Wünsche der Partnerin zu erfüllen. Der zweite Schauplatz: Calian mit Burg und  Kirchturm © Gilles Castle Laurence Poignard /visitvar.fr/ http://www.visitvar.fr/willkommen-in-der-provence-cote-azur/le-var/pays-de-fayence/callianWie sich die beiden nach den drei Tagen des unverhofften Glücksgefühls entscheiden werden, bleibt offen. Am Samstag vor der Hochzeit nehmen sie sich bei der Hand, und während Milena Migliari noch zögert, sieht sie, dass ihre Füße "von alleine losgehen, zusammen mit seinen."

Gekonnt, im Rhythmus der Musik wechselt De Carlo die Perspektive, lässt die Leserin abwechselnd in Milena Migliaris Herz und Nick Cruickshanks Kopf schauen. Eine schwebende, heitere Geschichte, in der De Carlo alle Sinne bedient, besonders aber die der Zunge und der Ohren. Cover der deutschen Ausgabe © Diogenes VerlagBeide ringen um die Vollendung ihrer Schöpfung, sehnen sich nach Freiheit und Selbstbestimmung. Man genießt die wundersamen Freuden des Augenblicks und akzeptiert, dass er die Auflösung bereits in sich trägt. De Carlo gelingt es, die Leserin das Glück schmecken zu lassen, wie Milena Migliaris Eis, süß und herb zugleich; es hören zu lassen in den Stakkato-Rhythmen der Musik. Zu sehen und zu fühlen ist es, in der herbstlichen Landschaft, aus der die Touristen abgezogen sind, auf dem Hauptplatz, wo Milena zufällig und neugierig im Begegnungskreis mitmacht, in jeder einzelne der vielen kleinen Szenen rund um den Eissalon und auf dem Anwesen in Callian.
Eine unerwartete Leichtigkeit des Seins umgibt dieses Wunder der Kreativität und der Gemeinsamkeit – absolut perfekt, genau deshalb, weil es nicht von Dauer ist.

Andrea De Carlo: „Ein fast perfektes Wunder“, „L’imperfetta meraviglia“, übersetzt von Maja Pflug. Diogenes 2017. 400 S. € 24,70. E-Book: € 20,99.