Jodi Picoult: „Kleine große Schritte“, Roman
Die New Yorkerin Jodi Picoult versteht es, brisante Themen auf spannende, auch unterhaltsame Weise darzustellen. In ihrem jüngsten Roman befasst sie sich mit Rassismus und Menschenverachtung. Im Zentrum steht Ruth Jefferson, eine afroafrikanische Kinderschwester und Hebamme, der von einem Elternpaar verboten wird, den neugeborenen Sohn zu versorgen. Keine schwarzen Hände auf weißer Haut! Als Ruth allein mit dem Säugling ist, gerät dieser in Atemnot und Ruth steht vor der Entscheidung: Soll sie der dienstlichen Anweisung gehorchen oder ihrem inneren Antrieb, dem Kind zu helfen, folgen?
Um in der weißen Welt von Neuengland überleben zu können, hat Ruth von ihrer Mutter gelernt, daran zu glauben, dass Hautfarbe oder Rasse keine Bedeutung haben. Auch die weißen Nachbarn, die sich für aufgeklärt und liberal halten, denken so. Ruths Ehemann und Vater ihres heranwachsenden Sohnes ist als Soldat in Afghanistan gefallen. Seit 20 Jahren ist sie im Mercy-West Haven Hospital ob ihrer Kompetenz und Hilfsbereitschaft anerkannte Schwester auf der Säuglingsstation. Dass die Spitalsleitung dem Verlangen des rassistischen Ehepaars, Turk und Brittany Bauer, das Baby nicht anzurühren, nachgibt, versetzt ihr einen schweren Schock.
Der kleine Davis stirbt, trotz aller Rettungs- und Wiederbelebungsversuche Ruths und des gesamten Ärztinnen-Teams. Ruth wird vom Dienst suspendiert und als Mörderin angeklagt. Um drei Uhr nachts wird sie von groben Polizistenhänden aus dem Bett gerissen und unter Rippenstößen im Nachthemd ins Untersuchungsgefängnis geschleift. Hilfe erhält sie von der Pflichtverteidigerin Kennedy McQuarrie, die sich keineswegs als Rassistin fühlt, allmählich aber, durch die Auseinandersetzung mit Ruths Leben, sensibel für den alltäglichen Rassismus wird.
Wie Ruths tapfere Mutter, die als Hausmädchen bei einer betuchten Familie alt geworden ist, passen sich die schwarzen Menschen an, ducken sich, um nicht aufzufallen, arbeiten besser als ihre Kolleg*innen, um den Arbeitsplatz nicht zu verlieren, ertragen es, dass ihnen beim Verlassen des Kaufhauses die Taschen kontrolliert werden, während weiße Kundinnen anstandslos passieren dürfen. Die weiße Mehrheit hat sich daran gewöhnt, hält sich für vorurteilsfrei und gutmeinend, weil sie einer schwarzen Frau die Hand schütteln. Die Schranken sind höher, als beide Seiten wissen wollen. Doch vor Gericht darf, nach einem ungeschriebenen Gesetz, die Rassenkeule nicht hervorgeholt werden. Kennedy will das Ruth klarmachen, Ruth kann es nicht akzeptieren. Sie will aussagen, die Wahrheit samt ihrer Wut herausschreien, erklären, warum sie tatsächlich vor dem Richter steht.
Der Prozess gegen Ruth und die Gewissenserforschung Kennedys sind die aufregenden Höhepunkte des Romans. Picoult gibt allen Beteiligten genügend Raum, auch Turk, seine Frau Brittany und der radikale Vater werden in ihrer Entwicklung, mit ihren Gedanken und Vorstellungen objektiv beleuchtet. Abwechselnd richtet die Autorin den Scheinwerfer auf jede der Hauptpersonen. Picoult verlässt die Leserinnen nicht ohne Hoffnung. Im letzten Kapitel, wie alle anderen mit den Stadien einer Geburt überschrieben, also „Nachgeburt“, erzählt Picoult, von einer neuerlichen Begegnung Turks mit Ruth sechs Jahre nach dem Prozess.
Der Roman spielt in Connecticut, wo Menschen mit dunkler Hautfarbe eine Minderheit sind. Da kann sich die Leserin leicht trösten: Ja, in Amerika! Bei uns doch nicht! Ich doch nicht!
Dabei fällt mir eine Szene aus Picoults Roman ein: Ruth kommt mit einer blutjungen, weißen Schülerin zu einer freundlichen Patientin, die sie untersuchen will. Die Frau zögert, fragt das junge Ding, ob das notwendig sei. Ruth bleibt ruhig, erklärt, dass sie die Schülerin gerade anlerne. Puterrot entschuldigt sich die Patientin. Solche Beispiele des unbewussten Microrassismus gibt es viele im Roman. Nur im Roman? Nur in Amerika? Ruth hat bisher davor die Augen verschlossen, Kennedy auch. Ruths Schwester aber sieht der Wirklichkeit in die Augen: „Der Punkt ist, dass du, egal, wie oft und wie viel du mit den Wölfen heulst, doch nie einer von ihnen sein wirst.“
Ein aufrüttelnder Roman, der nicht nur von Schwarz und Weiß, nicht nur von Amerika erzählt und auch den verborgenen, meist gar nicht bewussten Rassismus aufdeckt. Klar wird, dass Rassismus nicht bloß ein Vorurteil ist, es geht hier, in den USA, auch um Macht. Der Staat erschwert es Farbigen, in der Gesellschaft Erfolg zu haben und erleichtert es gleichzeitig der weißen Mehrheit, die, nimmt man es genau, von Einwanderern, Immigrantinnen, abstammt, zu reüssieren. Jodi Picoult belehrt jedoch nicht, verurteilt nicht, sie erzählt einfach die Geschichten von Ruth und ihrer Familie, von Kennedy, Turk und vielen anderen.
Der Titel nimmt Bezug auf ein Zitat, das dem Bürgerrechtskämpfer und Friedensnobelpreisträger Martin Luther King jr. zugeschrieben wird: „Wenn ich schon nichts Großes bewirken kann, kann ich doch auf großartige Weise kleine Schritte machen.“
Jodi Picoult: „Kleine große Schritte“, Originaltitel: „Small Great Things“, übersetzt von Elfriede Peschel, C. Bertelsmann, 2017. 592 S. Hardcover: € 20,60. E-Book: € 14,99.