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Orhan Pamuk: „Die Nächte der Pest“, Roman

Mit dem Nobelpreis geehrter Autor Orhan Pamuk. © birgun.net

Am 7. Juni gilt es, den 70. Geburtstag des großen türkischen Romanciers Orhan Pamuk zu feiern. Als erster Türke hat er (2006 den Nobelpreis für Literatur erhalten, mit 11 Romane hat er die Leserschaft in aller Welt begeistert, die ungezählten Preise haben hoffentlich Freude bereitet. Sein neuer Roman, „Die Nächte der Pest“, im Februar erschienen, liegt bereits in der 4. Auflage auf den Büchertischen und bietet sich mit fast 700 Seiten bestens als Urlaubslektüre an.

Meerblick, vielleicht von Minger aus. © schwimferien.chOrhan Pamuk lebt in zwei Welten, der europäischen und der osmanischen. Als Erzähler ist er ganz dem Orient verhaftet, ausufernd, fantasievoll ist sein Stil. Fakten werden mit Fiktion vermischt und eine kaum überschaubare Menge von Personen, historische und erdachte, wird vorgestellt. Schon im Vorwort ist das verschlungene Muster des Romans, „sowohl historischer Roman als auch ein Geschichtsbuch in Romanform“, erkennbar. Die Geschichte der Pest auf der Insel Minger wird im Jahr 2017 (zugleich das Jahr, in dem Pamuk den Roman veröffentlicht hat) von einer Historikerin namens Mina Mingerli erzählt. Die ihre Heimat liebende MIngerin bearbeitet die Briefe ihrer Urgroßmutter Prinzessin Pakize Sultan, an ihre ihre Schwester Hatice Sultan. Prinzessin Hatice Sultan, eine historische Person. Ihre fiktive Schwester Pakize Sultan scheibt Briefe aus Minger. © wikiediaHatice Sultan hat tatsächlich gelebt, Pakize Sultan ist erfunden, doch sind beide die Töchter des durch einen Putsch abgesetzten Sultans Murad V. Sein Bruder, der 1901 regierende Sultan Abdülhamid II. ist somit der ungeliebte Onkel der Schwestern, der die gesamte Familie Murads im Çırağan-Palast eingesperrt hat und auch für die Ehemänner seiner Nichten gesorgt hat. Pakize Sultan hat Glück gehabt, sie liebt ihren Mann, einen Arzt. Das frischvermählte Ehepaar musste eine von Abdülhamid angeordnete Reise nach China unterbrechen und auf Minger in Quarantäne bleiben. Damat Doktor Nurie und Pakize Sultan führen die Haupthandlung des Romans an. Pakize Sultan führt geleitet die Leserin in der Kutsche oder zu Fuß über die blühende, duftende Insel, die durch eine internationale Blockade von der Welt abgeschottet, mehr und mehr im Chaos versinkt, sich aber erholt, nachdem sich die kleine Insel zwischen Griechenland und der Türkei von Istanbul lossagt und eine eigene Regierung bildet.
Pamuk lässt seine Autorin, Mina Mingerli, erklären, worum es geht in diesem Roman:

Die Kunst des Romans liegt ja in der Fähigkeit, unser eigenes Leben so zu erzählen, als wäre es die Geschichte einer fremden Person, und die Geschichte Fremder so, als hätten wir sie selbst erlebt. Mich beim Schreiben wie die Tochter eines Sultans zu fühlen, erscheint mir daher durchaus einer Schriftstellerin würdig.

 Auch während der Quarantäne verkaufen die Bauern auf Minger ihre Waren. © schwimmferien.chManchmal darf sich auch die Leserin so fühlen, dann wieder fühlt sie sich mitten in der auch im Sommer 2022 noch nicht beendet Pandemie, denn die Reaktion der Bevölkerung und auch der hilflosen Regierenden sind gleich, als würden diese erdachten Frauen, Pakize Sultan und die Erzählerin Mina Mingerli (und auch die vielen Männer) hier und jetzt mit dem Virus leben. Wie es scheint, lernt die Menschheit nur langsam und ganz wenig dazu. Hilflosigkeit und Korruption, Intrigen und Aufstände, Unvernunft und Selbstsucht, Aberglaube und Hysterie beherrschen die Insel. Die Ärzte werden bedroht oder ermordet.In Frankreich wird über Sultan Abdülhamid berichtet: Le Petit Journal, 1897. © wikipedia / gemeinfreiOrhan Pamuk (die fiktive Mingerin ist ein Rahmen, sie wird bald vergessen) erzählt aus der Distanz und mit sparsamer Ironie. enn die Menschen es zu arg treiben, weicht er aus in die Natur, erzählt wie schön die Rosen blühen und wie betörend sie duften. So viele Tote auch auf der Insel Minger zu beklagen, so angenehm ist es in das Geschehen einzutauchen, die Liebesgeschichten kennenzulernen und den Tag zu erleben, an dem Minger sich vom osmanischen Reich lossagte. Am Ende, die Epidemie ist besiegt, die Grenzen sind wieder offen, Doktor Nuri und Pakize Sultan dürfen nach China reisen, und die Besitzerin ihrer Briefe meldet sich in der Jetztzeit. Sie erzählt, dass sie als Kind ihre Urgroßeltern, Pakize Sultan und Doktor Nuri, getroffen hat und auch wie es heute um die Freiheit Mingers bestellt ist.Buchcover: "Die Nächte der Pest". © Carl Hanser Verlag

Beim Verfassen dieser letzten Seiten des Buches überkommt mich oft der Eindruck, so gut wie jedes politische Ereignis im Osmanischen Reich ab 1901 habe irgendwie auch mit Minger zu tun. Das kann aber auch daher rühren, dass ich mich von der reichen Geschichte unserer kleinen Insel so habe faszinieren lassen, dass ich Minger ganz einfach überall sehe.

Diesen Satz hat ihr sicher Orhan Pamuk eingeflüstert. Minger ist überall, auch eine Katastrophe kann die Menschen nicht ändern, und auch einem großartigen Buch wird das nicht gelingen. Pamuk bietet jedoch anderes, wunderbares an Sheherazade erinnerndes Lesevergnügen, ein wenig Geschichtsunterricht und tiefe Einblicke in das Wesen der Menschen.

Orhan Pamuk: „Die Nächte der Pest“, aus dem Türkischen von Gerhard Meier, 4. Auflage, Hanser 2022. 696 Seiten. € 30.90.