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Raffaella Romagnolo: Das Flirren der Dinge, Roman

Erfolgsautorin Raffaella Romagnolo, © Lucia Bianchi

Die Italienerin Raffaella Romagnolo, geboren 1971, ist von Beruf Gymnasiallehrerin für Italienisch und Geschichte. Seit 2007 schreibt sie auch Geschichten, wunderbare Geschichten, die Historie und Imagination miteinender verbinden. „Vom Flirren der Dinge“ nennt der Diogenes Verlag ihren jüngsten Roman, der auf Italienisch geheimnisvoll „Di luce propria“ heißt, was etwa „durch das eigene Licht“ bedeutet und die Lebensgeschichte des Waisenkindes Antonio Casagrande, der ein hellsichtiger Fotograf wird, erzählt. Es sind unruhige Zeiten, Giuseppe Garibaldi und seine Anhänger kämpfen für ein unabhängiges, einiges Italien. Liebevoll entwirft die Autorin ein atmosphärisch dichtes Bild der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das heutige Italien und auch die Fotografie geboren worden sind.

Raffaella Romagnolo: "Di luce propria", italienische Originalausgabe im Verlag Mondadori. Wieder also ein marktkompatibler Buchtitel, der ebenso wenig aussagt wie der deutsche Titel von Romagnolos erfolgreichem Roman „Destino“ (Schicksal), der ohne direkten Zusammenhang mit dem Inhalt unter „Bella Ciao“ angepriesen wird. Dass auch im feinsinnigen Team des Schweizer Literaturverlags anscheinend die Marketingabteilung das Sagen hat, betrübt. Es flirren vor dem Auge des Protagonisten, Antonio Casagrande weniger die Dinge als die Schicksale von Menschen. Und das kommt daher, dass Antonio auf einem Auge blind ist –  keine Pupille, keine Iris, nur ein glasiger Augapfel, meistens verdeckt er diesen mit einer Binde. Als Pirat fühlt er sich nicht, er ist zart besaitet und lernt die Fotografie, die damals um 1870 gerade in den Kinderschuhen steckt. Schaut er mit dem blinden Auge durch das Objektiv, sieht er Menschen, die er kennt und liebt, sterben. Sie retten zu wollen, nützt nichts, in Vorhersehung einzugreifen, ist ihm nicht möglich.
Antonio wächst im Pammatone, dem berühmten Spital samt Waisenhaus von Genau, auf. Das Ospedale di Pammatone mit dem Waisenhaus in Genua war 500 Jahrhunderte lang, bis zum Beginn des 20., in Betrieb. Das Bild des flämischen Malers Cornelis de Wael († 1667) zeigt das Fest der Vergebung, das alljährlich im Ospedale gefeiert worden ist. © Genova, Musei di Strada Nuova - Palazzo Bianco / wikipedia Immer wieder werden Kinder von fremden Leuten abgeholt und adoptiert. Antonio hat sich damit abgefunden, dass er, halbblind, niemals einen Paten findet. Doch das Wunder geschieht, der Fotograf Alessandro Pavia will genau diesen Buben haben, um ihn auszubilden. Pavia wird zu Antonios Lehrer und Vater, und Antonio wird ein erfolgreicher Fotograf.
Romagnolo hat, wie schon in „Destino“, einen betörenden, spannenden und klugen Roman geschrieben, der italienischen Leserinnen vermutlich nichts Neues erzählt, für alle anderen auch eine Quelle von Fakten zur italienischen Geschichte rund um die Einigungsbewegung unter Garibaldi und auch die Geburt der Fotografie ist. Alessandro Pavia, Selbstporträt von 1870. Aus dem Album der Tausend, mit dem Pavia die Freiheitskämpfer unter Garibaldi fotografisch verewigt hat. © wikipediaDas Pammatone ist ebenso historisch wie Allessandro Pavia und alle die an den Ereignissen beteiligten Personen. Eingebettet in die Geschichte sind die Geschichten von Antonio, der tapferen Hebamme Caterina, die Antonios Frau wird und mit ihm gemeinsam Alessandro aufzieht. Die Orte, bis auf das Bergdorf Borgo di Dentro, sind auf der Landkarte zu finden, alle geschilderten öffentlichen Ereignisse sind nachzulesen. Romagnolo hat viel Zeit für die Recherchearbeit aufgewendet. Hat man  „Bella Ciao“ gelesen, so erscheint auch Borgo di Dentro, nahe Genua, real, spielt er doch in beiden Romanen eine Rolle. Antonio Casagrande begegnet auch einem der Protagonisten von „Bella Ciao“. Domenico Leone lässt sich von Alessandro Pavia fotografieren, der junge Antonio assistiert. Das Album der Tausend, zwischen 1863 und 1870 von Pavia erstellt. © Museo Centrale del Risorgimento, Roma / wikipedia
Dass die Autorin zugleich Lehrerin ist, spürt die Leserin nicht, sie belehrt nicht, sondern erzählt, erzählt von den schwierigen Jahren des Kampfes um ein geeintes Italien, und, wie in Giuseppe Tomasi di Lampedusas berühmten Roman „Der Leopard“, stehen jene, die sich an die alten Zeiten, das Gewohnte klammern, jenen gegenüber, die auf das Neue, das Bessere hoffen. Mit der Gründung des Königreichs Italien 1861 war das Töten nicht beendet. Antonio ist in Mailand, um den sogenannten Aufstand der Mägen zu fotografieren. Das Volk ist auf der Straße, weil es hungert. Statt Brot gibt es Gewehrsalven, gnadenlos lässt General Bava Beccaris Frauen und Männer niederschießen. Die Bilder, die Antonio sieht, mischen sich in seine Träume. Giuseppe Garibaldi, 1866. Der Revolutionsführer und Nationalheld ist auch heute noch präsent: Als Statue, auf Straßen nund Plätzen, die nach ihm benannt sind. © wikipedia Raffaela Romagnolo schafft es, private, erdachte Geschichten zu erzählen, die sie nahtlos in die Realität der italienischen Geschichte einbettet. Nicht nur in diesem Sinn ist „Das Flirren der Dinge“ ein inklusiver Roman, auch die gesellschaftlichen Schichten, die Moralvorstellungen und Lebensziele mischen sich und Männer wie Frauen sind nicht eindimensional gezeichnet, sondern in ihrer ganzen, ganz menschlichen Vielfalt. Neben Antonio gräbt sich die Puffmutter Madame Carmen am tiefsten ins Gedächtnis. Im Gegensatz zum Fotografen (der Fotograf, wird Antonio von seiner Schöpferin oft genannt, Madame Carmen nennt ihn auch im hohen Alter noch kleiner Hering, weil er als junge Mann spindeldürr war), der das einfache Fotografieren auf Papier ablehnt und sich nicht vom alten Verfahren und der Prozedur in der Dunkelkammer trennt, bewegte Bilder, den Film, lehnt er überhaupt ab. "Das Flirren der Dinge",  Schutzumschlag © Diogenes VerlagMadame Carmen ist wandlungsfähig, übersteht Katastrophen und passt sich an neue Zeiten an. Sie steigt aus eigener Kraft zur Chefin eines Luxusbordells auf, wird zur reichen Witwe und führt sogar später ihre eigene Bank („nur für Huren“), am Ende hat ihr der Krieg alles genommen, sie verkauft ihren Schmuck, um Kriegerwitwen und Heimkehrern zu helfen und sitzt im Sonnenuntergang mit Antonio auf der Bank. Manchmal setzt sich Caterina dazu. Sie sprechen kaum, denken an Alessandro, der als Schiffsjunge in England arbeitet, um genügend Englisch zu lernen und Geld zu verdienen, damit er sich eine Passage nach Amerika kaufen kann. Ein in Genua stationierter Sergeant aus Los Angeles hat ihm den Floh ins Ohr gesetzt: „Hollywood“. Antonio hat dem Sohn das Leben gerettet, niemand weiß das, und er fotografiert noch. Nicht auf Zelluloid, sondern, wie er es von Alessandro Pavia gelernt hat, auf Glasplatten. In die Zukunft schaut er nicht mehr.

Raffaella Romagnolo: „Das Flirren der Dinge“, Original: „Di luce propria”, aus dem Italienischen von Maja Pflug, Diogenes 2022. 368 Seiten. € 24,70; E-Book: € 20,99.
Die Bilder betreffen reale Orte und Ereignisse, die im Roman erwähnt werden, wie etwa „Der Zug der Tausend“, nach dem das Genuesische Viertel Quarto dei Mille benannt ist.