Håkan Nesser: „Schach unter dem Vulkan“, Roman
Mit einem Roman im Roman eröffnet Håkan Nesser die Partie. Könige, Damen und Bauern sind allerdings nicht im Spiel, weil der Titel von Nessers jüngstem Roman ein Gleichnis ist. Autoren verschwinden von der Bildfläche und Gunnar Barbarotti, der Kommissar, fragt sich, ob es angesichts des grassierenden Virus wirklich wichtig ist, nach den verschwundenen Dichterlingen zu suchen. „Ist das nicht“, denkt er, „wie Schachspielen unter dem Vulkan?“. Keine Sorge, er löst die Rätsel, es dauert nur eine Weile, denn Nesser hat einiges über den Literaturbetrieb und auch die Leser:innen zu sagen.
Obwohl es immer Tote gibt, wenn Nesser den längst pensionierten Kommissar van Veeteren, der nur wenig älter ist als Nesser selbst, oder den aktiven Gunnar Barbarotti (schwedische Mutter, italienischer Vater), der gern mit Gott spricht und manchmal sogar eine Antwort bekommt, auftreten lässt, sind Nessers Romane keine Krimis. Nicht das einzelne Verbrechen steht im Mittelpunkt, sondern der Mensch, in dem das Böse ebenso schlummert wie das Gute zutage tritt. Oder umgekehrt, manche gehen geradezu hausieren mit dem Bösen. Aber die Kommissare, ihre Partnerinnen und andere handelnde Personen schlagen sich auch immer wieder mit dem Sinn des Lebens und dem Warum des Sterbens herum. Diesmal sind es auch Autoren, Autorinnen, Verleger, Lektoren und die Leser, die Nesser mit recht bissigen Nebensätzen analysiert.
Zu Beginn aber müssen sich die Leser:inen mit einem „Mise en abyme“ auseinandersetzen. Der Autor Håkan Nesser schreibt einen Roman über den erfolgreichen Autor Franz J. Lunde, der einen Roman über den erfolgreichen Autor John Leander Franzén schreibt. Dieser Roman im Roman heißt „Letzte Tage und Tod eines Schriftstellers“. Ziemlich verwirrend. Autor 2, also Franz J. Lunde, wird bei einer Lesung aggressiv gefragt, ob es richtig sei, dass ein Autor, der einen perfekten Mord beschreibt, diesen auch selbst verübt hat. Lunde bekommt Angst, denn bei der nächsten Lesung steht wieder jemand auf, vielleicht dieselbe Frau oder ein Mann, später kann sich niemand genau erinnern, die / der die gleiche Frage stellt. Lunde checkt im Hotel in Kymlinge ein, einer Stadt, die auf keiner Landkarte Schwedens zu finden ist. Und wird von da an nicht mehr gesehen. Doch Autoren / Autorinnen brauchen ja öfter eine Rückzugsmöglichkeit und verschwinden, um ihre Gedanken und Einfälle zu sammeln. Noch ist keine Feuer am Literaturdach. Doch bald wird das Verschwinden eines zweiten Autors, der zugleich als Literaturkritiker über Kollegen herzieht, bekannt. Und schließlich löst sich auch die bekannte Lyrikerin Maria Green in Luft auf, nachdem sie ihren neuen Gedichtband „Achtzehn Gespräche mit einem Pferd, wenn ich eins hätte.“ öffentlich vorgestellt hat. Jetzt aber! Barbarotti ist gefragt und mit ihm muss auch Kollegin Eva Backman an die Arbeit. Wo sind die zwei Literaten und ihre Kollegin hingekommen? Es gibt Nachkommen und Freund:innen, die sind mehr als beunruhigt, auch weil keinerlei Spuren der drei Verschwundenen zu finden sind. Niemand weiß, ob sie überhaupt noch leben. Wir Leser:innen dürfen, was Barbarotti und Backman sich jedes Mal von neuem verbieten: spekulieren. Doch weil es Fakten braucht, um das Rätsel im abime (dem Abgrund, dem Bodenlosen) zu lösen, müssen wir uns auf Barbarotti und Backman verlassen. Wieder einmal werden wir total überrascht sein, einfach, weil der schlaue Autor uns viel erzählt, aber die wichtigen Fakten vorenthält. Alles hängt mit allem zusammen, und was als Zufall erscheint, ist gar keiner. Im Irrgarten zwischen „Wirklichkeit“ und dem von Lunde geschrieben Roman, zwischen erzählter Gegenwart (Herbst 2019 bis Sommer 2020, als die Pandemie schon voll ausgebrochen ist, was allerdings nur eine Nebenrolle bei der Suche nach den verschwundenen Autoren plus der Lyrikerin spielt) und der Vergangenheit vor etwa 30 Jahren, zwischen Ironie und Philosophie pendelt Nesser auf mehr als 400 Seiten hin und her und bereitet größtes Lesevergnügen. Er selbst erlaubt sich auch immer wieder einen Scherz, etwa wenn der Gunnar Barbarotti einen Roman von Franz J. Lunde, der Aussagekräftiges über den Autor enthalten soll und „Das feinmaschige Netz“ heißt, liest. Die Nesserverehrerin aber weiß, dass dieser Roman, ein Kriminalroman, von Håkan Nesser geschrieben worden ist. Ist Lunde ein Doppelgänger Nessers? Ob all die Namen der fiktiven Autoren im Schwedischen als Anagramme lesbar sind, entzieht sich meiner Kenntnis.
Wie in allen Romanen (ob mit oder ohne Kommissare) Håkan Nessers sind auch in „Schach unter dem Vulkan“ Spannung und Unterhaltung, Erkenntnis und Anregungen zum Weiterdenken garantiert.
Håkan Nesser: „Schach unter dem Vulkan“, aus dem Schwedischen von Paul Berf, btb 2021, 430 Seiten. € 22,70.
Einen Überblick über sämtliche Romane von Håkan Nesser finden Sie hier.