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Pajtim Statovci: „Grenzgänge“, Roman

Finlandia-Preis für Autor Pajtim Statovci. © nordisch.info / Anniliina Lassila)

Im deutschen Sprachraum noch relativ unbekannt, ist Pajtim Statovci, geboren 1990, in seiner Heimat Finnland und bei Englisch sprechenden Leser:innen als Autor hoch angesehen. Sein jüngster Roman, „Grenzgänge“, ist der erste, der auf Deutsch übersetzt worden ist. Der Icherzähler, Bujar, erzählt von seiner Kindheit in Albanien und seiner Reise durch die Welt auf der Suche nach sich selbst.

Tirana, die Hauptstadt Albaniens, Ausgangspunkt für die Reise Bujars. © wikipediaBujar ist ein Geschöpf des Autors, der Roman keine Autobiografie, obwohl sich wohl Berührungspunkte ergeben. Auch Pajtim Statovci ist in Albanien geboren, doch im Kosovo aufgewachsen. Allerdings nur zwei Jahre lang, dann emigriert die Familie und landet in Finnland. Dort lebt der Autor auch heute noch, Finnisch ist auch seine literarische Sprache. Stefan Moster hat den Roman ins Deutsche übertragen.
Noch einmal: Bujar ist nicht Pajtim, eher sein Geschöpf. In Albanien herrscht Enver Hodscha (auf Deutsch auch Hoxha, † 1985. Er war 1944 bis 1985 Generalsekretär des ZK der Partei der Arbeit Albaniens und damit de facto diktatorischer Herrscher der Sozialistischen Volksrepublik Albanien), Bujar wächst in einem kleinen Ort fern der Hauptstadt Tirana auf, der Vater ist schwer krank, aber auch gewalttätig. Über die Märchen und Mythen Albaniens, die der Vater erzählt, bekommt er Kontakt zu seinem Sohn. Das Erzählen wird fortan der Antrieb zu Leben für Bujar sein. Die Passagen, die vom rauen Albanien und den tapferen Bewohnern des gebirgigen Landes am Mittelmeer erzählen, erinnern lebhaft an die Landschaftsschilderungen des albanischen Schriftstellers Ismail Kadare, dessen Romane um 1970 / 80 in Mitteleuropa en vogue, in Albanien jedoch verboten waren.  Fürst Skanderbeg (1405–1468) auf dem Skanderbegplatz in Tirana. Der General wird in Albanien als Held verehrt. ©  Foto von Wolfgang Pehlemann auf wikimedia. Samt den Erzählungen des Vaters im Kopf verlässt Bujar mit 14 gemeinsam mit seinem älteren Freund, Agim, das Dorf. Die beiden geistern eine Zeitlang in Tirana herum, bis Agim einen Fluchtplan entwickelt. In einem Motorboot wollen sie übers Meer nach Italien fliehen. Ab dann ist Bujar allein, gondelt durch die Welt, bis er endlich, mit etwa 22 Jahren, in Finnland eine Art Heimat findet. Zuerst findet er aber eine Frau, oder sich selbst, denn das Mädchen heißt Tania, Bujar ist fortan Tania, nicht immer, aber immer wieder. Von Agim erzählt er nicht mehr, erst am Ende der langen Reise, wenn Bujar / Tania nach Tirana zurückkehrt, erscheint ihm der verlorene Freund im Traum. Als Pferd.Die aue Gebirgslandschaft von Albanien. © ZDF / Wolf Christian UlrichSchon ganz am Anfang seiner Bekenntnisse macht der Erzähler klar, dass er keine eindeutige Person ist, wie ein Gestaltwandler wechselt er von Mann zu Frau, hat verschiedene Namen und erzählt auch unterschiedliche Geschichten.
Gut geht es dem jungen Mann, der selbst nicht genau weiß, wer und was er ist, nicht in Madrid oder Rom, nicht in New York oder Berlin. Er / sie gehört zu keiner Gruppe, bleibt Außenseiter:in, verstoßen, ungeliebt und oft gequält.

ich bin ein Mann, der keine Frau sein kann, der aber manchmal aussehen kann wie eine Frau, wenn ich will. Das ist meine beste Eigenschaft, eine Maskerade, die ich an- und ablegen kann, wann es mir passt. … Ich kann wählen, was ich bin, ich kann mir mein Geschlecht aussuchen, ich kann mir meine Nationalität und meinen Namen und die Stadt meiner Geburt aussuchen indem ich einfach nur den aufmache. Niemand ist gezwungen, der Mensch zu sein, als der er geboren wurde, stattdessen kann man sich zusammensetzen wie ein Puzzle. Autor Pajtim Statovci. © Anna Kurki / Luchterhand
Sich zusammenzusetzen wie ein Puzzle, das tut Bujar immer wieder von neuem und auch seine Erzählung ist ein Puzzle, nicht chronologisch, nicht logisch, doch wunderbar zu lesen, packend und bezwingend.
Ich tauche ein in eine Welt, die sich auflöst, deren Grenzen fallen und neu gezogen werden. In einem neutralen Land mitten in Europa lebend, konnten die die elf letzten Jahre vor der Jahrtausendwende, von der Loge aus mit dem Fernglas beobachtet werden, doch Statovci zieht mich mitten hinein, Bujar ist nicht nur reale Person, sondern auch politische Metapher.
Schutzumschlag: "Grenzgänge". © Luchterhand VerlagAuch den Roman „Grenzgänge“ könnte man als Gestaltwandler bezeichnen, je nachdem, wie er gelesen wird, als Abenteuerroman oder als Biografie einer transsexuellen Person, auch ein wenig von einem Schelmenroman ist enthalten und natürlich erlaubt Statovci auch einen tiefen Blick in das Leben und die Gefühle eines Flüchtlings, der nirgends willkommen ist, und endlich ist es auch eine Abhandlung über die Schwierigkeit, eine Beziehung zu leben. Bujar erzählt seine wahren und erfundenen Geschichten im Präsens, Statovci lässt die Leser:innen an den Gefühlen seines Helden unmittelbar teilnehmen und zeigt, dass er ein großartiger Erzähler und auch ein perfekter Stilist ist.

Pajtim Statovci: „Grenzgänge“, Originaltitel: „Tiranan Sydän“ / „Das Herz von Tirana“, aus dem Finnischen von Stefan Moster, Luchterhand, 2021. 320 S. € 22,70, E-Book: € 17,99