Ali Smith: „Sommer“, Jahreszeitenquartett IV
Mit dem vierten, abschließenden Teil ihrer Tetralogie über die vier Jahreszeiten macht es die schottische Autorin Ali Smith leicht, den Sommer zurück zu holen. Begonnen hat sie im Herbst und ist, nach Winter und Frühling, 2020 im „Sommer“ angelangt. Auch wenn dieser mitten in der Pandemie einer des Missvergnügens war, weiß Ali Smith die Leser:innen zu trösten.
Mit ihrer Kunst des Erzählens, mit ihrem unvergleichlichen Stil und den ungezählten Referenzen, mit ihrem feinen Humor und der empathischen Wärme hat sie Kritik und Publikum erobert. Mit dem Versprechen, dass, solange die Musen walten, Freude und Erkenntnis spenden, ein Licht in jedes Tunnel leuchtet. Smith gibt die Hoffnung nicht auf und lehrt ihre Fans, das sind auch im deutschen Sprachraum nicht wenige, es ihr nachzumachen.
Ali Smith ist sicher, dass nach jedem Winter ein Sommer kommt. Es sind Kunstwerke, Malerei, Film, Literatur, die die Autorin als Tröster und Retter anführt. Kunst ist für sie nicht Flucht aus der Realität, sondern ein Beitrag zu deren Verständnis und ein Remedium, diese zu ertragen.Der Auslöser für die Idee zum Jahreszeiten-Quartett war die in Großbritannien pro Brexit ausgegangene Abstimmung. So hat sie in vier Jahren vier pralle Bücher geschrieben, in denen sie mit Hilfe ihrer Personen Meinung auf Meinung prallen lässt und den Geschehnissen in der Gegenwart jeweils ein Pendant aus der Vergangenheit, vornehmlich aus den beiden Weltkriegen, gegenüberstellt.
Der abschließende Band, „Sommer“, ist der umfangreichste und bietet so etwas wie eine Zusammenfassung und die Conclusio, dass alles mit allem zusammenhängt und niemand eine Insel ist. Personen aus allen vorangegangenen Jahreszeiten tauchen auf oder werden erwähnt und durch sämtliche Jahreszeiten mäandern Kunstwerke und ihre Schöpfer:innen. Shakespeare ist immer anwesend und gibt mit einem seiner Dramen jedem Band ein Motto. In diesem letzten ist es das selten aufgeführte Theaterstück (früher eine Komödie, neuerdings als Romanze klassifiziert) „Das Wintermärchen“. Für Ali Smith ist „The Wintertale“ positiv zu sehen, denn Shakespeare habe den Winter als Jahreszeit gewählt, damit wir wissen, dass danach sicher der Sommer Wärme und Licht verbreiten wird.
Smith, geboren 1962 in Inverness, wirbt fürs Verstehen, Verzeihen und Gewährenlassen. Diese Toleranz zeigt sie auch ihren Figuren gegenüber, sie mag sie alle, auch wenn sie nicht mit ihren Ansichten übereinstimmen. Besonders mag sie aber den alten Daniel, einen in England beheimateten Deutschen, der seine Schwester durch NS-Mörder verloren hat und selbst während des 2. Weltkrieges als "feindlicher Fremder" auf der Isle of Man interniert war. Dort hat er auch den deutschen Künstler Kurt Schwitters getroffen, der ebenfalls interniert war. Eine wichtige Rolle in "Sommer" spielt auch Albert Einstein, der vom 13jährigen Robert verehrt wird. Von seiner älteren Schwester, Sacha, wird der Hochbegabte als "Nervensäge" bezeichnet. Die Mutter, ene ehemalige Schauspielerin, lebt vom Vater der Kinder getrennt. Er hat sein Haus gleich nebenan und wohnt darin mit seiner Freundin, Ashley. Die hat, während sie an einem Buch über die Macht der Wörter schreibt, aufgehört zu sprechen. Sprache, Wörter, Zitate – ein Lieblingsthema von Ali Smith, mit dem sie in all ihren Texten wunderbar zu spielen weiß.
Wie Smith alle Geschichten, Personen und Ereignisse zu einer bunten und stimmigen Collage verwebt (nicht grundlos wird Kurt Schwitters erwähnt), wie sie mit wenigen Strichen ihr Personal skizziert, sodass ich als Leserin eine enge Bindung zu ihnen aufnehmen kann, wie köstlich ihre Wortspiele sind – von der Übersetzerin Silvia Morawetz verlangt Smiths Stil einiges an Wortakrobatik, doch sie ist dem Original durchaus gewachsen – , erregt Bewunderung, Lesevergnügen, Nachdenklichkeit und ist – weil‘s zeitlich gerade passt, noch beraten die Akademiemitglieder in Stockholm–, nobelpreiswürdig. Einstweilen hat sie als Zusatz zu anderen Preisen immerhin den Orwell Prize for Political Fiction 2021 erhalten. Empfehlung: Den Sommer lesend zurückholen, doch wie Smith ihre Jahreszeiten geordnet hat, mit dem Herbst beginnen und sich erschüttert und auch vergnügt bis zum Sommer vorarbeiten!
Nachtrag: Das Nobelpreiskomittee, immer für eine Überraschung gut, hat entschieden: Der Nobelpreis für Lieratur 2021 ergeht an den 73 Jahre alten Schriftsteller Abdulrazak Gurnah. Gurnah ist 1948 in Sansibar, Tansania geboren und lebt in Großbritannien. Er schreibt auf Englisch, sein Roman "Die Abtrünnigen" ist in der Übersetzung von Stefanie Schaffer-de Vries 2006 im Berlin Verlag erschienen. Auf die Krönung von Ali Smith können wir noch waren, bis sie den 70. Geburtstag erreicht hat, fließt noch viel Wasser den Cam hinunter.
Ali Smith „Sommer“, 4. Band der Jahreszeiten-Tetralogie, (Originalausgabe: „Summer“, Hamish Hamilton, 2020), aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Luchterhand 2021. 384 Seiten. € 22,70.