Katrine Engberg: „Das Nest“, Kriminalroman
Das Nest“ ist der vierte Teil der in Kopenhagen, der Heimatstadt der Autorin Katrine Engberg, angesiedelten Krimireihe um Anette Werner und Jeppe Kørner. Die Ausgangslage scheint einfach: Der 15jährige Oscar ist verschwunden, die Eltern verlangen von der Polizei, dass er gefunden wird. Verschwundene Teenager bereiten den Ermittelnden meist wenig Kopfzerbrechen, viel verwirrender ist die Tatsache, dass in einem Container der Müllverbrennungsanlage ein Toter gefunden wird.
Kurzes Aufatmen von Werner und Kørner: Der Tote in der Müllverbrennungsanlage in Amager Bakke ist nicht Oscar. Bis klar wird, dass die Leiche im hochmodernen Öko-Kraftwerk und Oscars Verschwinden doch zusammenhängen, dauert es eine Weile. Lieber als um ihre Baby-Tochter kümmert sich Anette Werner um die Lösung der Rätsel, die immer mehr werden, je länger nach Oscar gesucht wird. Gesucht wird vor allem in den alten Festungen, die auf vorgelagerten Inseln mehrheitlich ungenutzt stehen. Dabei gerät Werner selbst in Gefahr, weniger physisch, da kann sie sich schon wehren, als psychisch. Sie scheint sich in den Inselwart von Trekroner zu verlieben. Zum ihrem und dem Glück der kleinen Familie, ist Mads Teitgen noch mit der Trauer um seine kleine Tochter beschäftigt, die ein Jahr zuvor an Leukämie verstorben ist.
Engberg beschäftigt sich diesmal mit der Kinderziehung, mit Kunstschwindel, Korruption und Wirtschaftsbetrug, doch das Mordmotiv ist ein ganz anderes, und das erfährt man krimirichtig erst am Ende. Es sind fast zu viele Themen, die die Autorin anschneidet, aber nicht wirklich ausführt. Der deutsche Titel, „Das Nest“, und auch der Beginn des Romans geben vor, dass die seltsamen Methoden der Erziehung durch Oscars Eltern im Zentrum liegen. Doch lässt die Autorin das Thema bald fallen. Der Originaltitel, „Vådeskud’, was frei übersetzt „Fehlschuss“ oder auch "Querscläger" bedeutet, legt auch einen ganz anderen Fokus. Weniger wichtig ist, dass die genaue Erklärung der Manipulationen in Amager Bakke, dem international gerühmten Öko-Kraftwerk, für Laien nicht so einfach nachzuvollziehen ist. Jedenfalls steht fest: Wie Hochverrat eine Frage des Datums ist (der französische Diplomat Talleyrand), so sind Korruption und Verführbarkeit eine Frage der Summe.
Spannend ist auch dieser eheer ruhige 4. Band des Kopenhagen-Krimis, vor allem, weil die Autorin ihrer Methode des dauernden Perspektivenwechsels huldigt und im ersten Drittel die Leserin mit allen möglichen Personen bekannt macht, die sie erst später einordnen kann. Engberg legt ein buntes Puzzle an Verdächtigen und auch gesellschaftlichen Problemen vor, dessen Teile sich erst gegen Ende zu einem Bild zusammenfügen. Und weil Jeppe Kørner dauernd müde ist und außerdem Liebeskummer hat, also nicht voll einsatzfähig ist, gebührt wieder mal Anette der Ruhm, die Rätsel gelöst und die Geheimnisse – und das sind viele – aufgedeckt zu haben. Sie nimmt ihre Kraft aus dem glücklichen Familienleben. Der Showdown hat es in sich, das gemächliche Tempo der Aufklärung, die ohnehin weniger als eine Woche währt, ist schnell vergessen. Nicht vergessen hat Katrine Engberg auf das Privatleben von Werner und Kørner und auch nicht auf die drollige Garnierung des Krimis durch die pensionierte Professorin Esther de Laurenti, die schon wieder an einem Roman bastelt, und einen ihrer beiden Möpse zu Grabe getragen hat. Auch Nachbar Gregers, dessen Demenz stetig zunimmt, ist noch vorhanden und Jeppe braucht wieder mal einen Rat von der Literaturfachfrau, um den ist Esther niemals verlegen.
Katrine Engberg: Das Nest“, „Vådeskud“, aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg, Diogenes 2021, 416 Seiten. € 20,60.