Maurice Sendak: „Wo die wilden Kerle wohnen“
Bald 60 Jahre ist es her, dass Max sein Wolfskostüm angezogen und die Mutter auf die Palme getrieben hat. Er ist ohne Essen ins Bett geschickt worden. Was dann passiert ist, erfahren Kinder und Eltern auf der ganzen Welt immer wieder von neuem. Die Rede ist von Maurice Sendaks wunderbarem Buch „Wo die wilden Kerle wohnen“. Die englische Originalausgabe, „Where the Wilde Things Are“ ist 1963 erschienen, 1967 hat Diogenes die gelungene Übersetzung ins Deutsche von Claudia Schmölders herausgebracht und seitdem immer wieder neu aufgelegt.
Max und die Wilden Kerle sind unsterblich.
Sigmund Freud hätte seine Freude an der auf 333 Wörter (Deutsch, auf Englisch sind es 338) zusammengefassten Gedanken über kindliche Wut, über Einsamkeit und Furcht und der Sehnsucht nach Geborgenheit und der Liebe der Eltern. Eine Nacherzählung des Abenteuers von Max auf seinem kleinen Segelboot kann die Schönheit und Wärme des Bilderbuches nicht wiedergeben. Jedenfalls hat Max bald genug vom Krachmachen und „wollte dort sein, wo ihn jemand am allerliebsten hatte“, er sagt „Nein“ auf die Bitten der wilden Kerle – sie haben ihn zum Fressen gern –, zu bleiben und segelt zurück über das Meer:
… bis hin in sein Zimmer, wo es Nacht war / und das Essen auf ihn wartete, / und es war noch warm.
Diese letzten fünf Wörter treiben mir jedes Mal die Tränen in die Augen. Das wünschen sich kleine und große Menschen, frei zu sein und zugleich geborgen, wütend aufzustampfen und dennoch ein Nachtmahl zu bekommen.
Maurice Sendak (1928–2012) ist als Sohn einer Familie polnisch-jüdischer Einwanderer in Brooklyn geboren. Von frühester Kindheit an wollte er Buchillustrator werden, entschloss sich dann, auch selbst Texte zu verfassen. Sowohl seine Zeichnungen wie auch die Texte (ab Mitte der 1950er-Jahre) stießen anfangs auf Widerstand: „Zu abstoßend, zu gewalttätig, zu grauslich“, in den USA waren die „Wilden Kerle“ in manchen Bibliotheken verboten, auch die deutsche Übersetzung hat anfangs bei den Kritiker*innen keine Gnade gefunden. Den angesprochenen jungen Leser*innen oder Betrachter*innen der sprechenden Bilder war die Kritik der Erwachsenen egal, sie waren fasziniert von dem wütenden Max und den großen Zähnen der Wilden Kerle und haben sich selbst erkannt. Das tun sie auch heute noch.
Ursprünglich wollte Sendak Max zu den wilden Pferden („Land of Wilde Horses) flüchten lassen, doch dann registrierte er, dass er nicht wusste, wie man ein Pferd richtig zeichnet, und aus den Pferden wurden Kerle. Der Begriff ist vom jiddischen Ausdruck „vilde chaya“ für einen Wildfang inspiriert. Für die Illustration hat Sendak Karikaturen, die er als Jugendlicher von seinen Verwandten gezeichnet hat, verwendet. Die erschienen ihm „komplett verrückt, mit irren Gesichtern, wilden Augen und großen, gelben Zähnen.“ Die Angewohnheit von Tanten und Onkeln, Kinder in die Wange zu zwicken, bis es weh tut, kennen wohl viele Kinder und verabscheuen diesen misslungenen Ausdruck von Zärtlichkeit. Bei der Arbeit an der Opernadaption durch den britischen Komponisten Oliver Knussen 1983 gab Sendak den Monstern den Namen seiner Familienmitglieder: Tzippy, Moishe, Aaron, Emile und Bernard (auch sein 2. Vorname).
Sendak hatte offenbar nichts gegen die Adaptionen, die sein Buch ertragen musste, vor allem die Filmindustrie bemächtigte sich des Stoffes. Die Oper (Sendak / Knussen) wurde noch unvollständig 1980 in Brüssel zum ersten Mal aufgeführt; die erste vollständige Aufführung fand 1984 in Glyndebourne statt. 2009 ist der Spielfilm von Spike Jonze weltweit gezeigt worden und mit freundlichem Wohlwollen aufgenommen worden. Sendak war im Produzententeam. Auf die zahlreichen Analysen und Interpretationsversuche samt Hilfestellung für Pädagog*innen und Eltern, kann getrost verzichtet werden. Zu wem Text und Bilder nicht sprechen, dem ist nicht zu helfen. Inspirierten, Nachahmer*innen und Interpret*innen haben sicher erkannt, dass es Bücher gibt, die so perfekt sind, dass es einem Sakrileg gleichkommt, daran zu rühren. Das (übersetzte) Original ist unersetzbar. „Le petit Prince“ von Antoine de Saint-Exupéry (erstmals erschienen 1950 im Karl-Rauch-Verlag) gehört übrigens auch zu diesen unberührbaren Meisterwerken, die in jedem Alter geliebt und verstanden werden.
Zum Abschluss ein kurzes Zitat aus dem englischen Original plus anschließender Anekdote:
… his mother called him „WILDE THING!“ / and Max said: „I’LL EAT YOU UP!“ / so he was sent to bed without eating anything.
Sendak mochte es, Briefe von Kindern zu erhalten und beantwortete sie alle. An Jim hat er eine Karte mit einer Zeichnung gesandt und geschrieben: „Lieber Jim, ich habe deine Karte geliebt.“ Dann hat er einen Brief von Jims Mutter erhalten: „Jim liebte deine Karte so sehr, dass er sie gegessen hat.“ „Das war für mich eines der höchsten Komplimente, das ich jemals erhalten hatte. Es war ihm egal, dass es eine Originalzeichnung von Maurice Sendak war oder so. Er hat es gesehen, er hat es geliebt, er hat es gegessen“, erzählt Sendak in einem Interview. (tmlarts.com). Es scheint, als hätte Sendak wenig Wert darauf gelegt, fotografiert zu werden. Selbst der Diogenes-Verlag veröffentlicht kein Foto des Autors und auch in der deutschsprachigen Wikipedia gibt es kein Abbild. Also verzichte ich auch darauf.
Maurice Sendak: „Wo die Wilden Kerle wohnen“, aus dem Amerikanischen von Claudia Schmölders, Diogenes 1967, 7. Auflage 2013. Bilderbuch, 40 Seiten. € 20,60.
Bebilderung: Buchillustration. © Maurice Sendak