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Christiane Neudecker: „der gott der stadt“, Roman

Autorin Christiane Neudecker. © Maurizio Gambarin

Fünf Theaterstudent*innen haben das Glück, unter hundert Bewerber*innen ausgewählt zu werden, um an der renommierten Piscator-Schauspielschule das Fach Regie zu studieren. Der Lehrer, Korbinian Brandner, wird als Gott angehimmelt, ist zugleich als Teufel verrufen. Im Prolog wird erklärt, dass einer aus der Runde sterben wird, und es ist bald klar, wer von den Fünfen das sein wird. Christiane Neudecker hat mit „der gott der stadt“ einen rätselhaften, vielschichtigen Roman geschrieben, doch der Schichten sind zu viele, was die Autorin mitteilen will, wird nicht ganz deutlich.

Der alte Wasserturm in Berlin, wo die Schule im Roman angesiedelt ist. © wikipedia.Ich lese die 650 Seiten bis zum bitteren Ende und weiß trotzdem nicht, was ich mit diesem Roman anfangen soll. Schon den Prolog beherrscht der Tod. Der deutsche Lyriker Georg Heym ertrank am 16. Jänner 1912 beim Eislaufen in der Havel, als er seinen eingebrochenen Freund, den Autor Ernst Balcke, retten wollte. Die Freunde waren beide 25 Jahre alt. Der Romantitel verweist auf ein expressionistisches Gedicht Heyms gleichen Titels. Georg Heym, 1887–1912. © wikipedia

Also könnte der Roman als Epitaph für Georg Heym gedacht sein. Zugleich aber ist die Aufgabe, die Brandner seinen neuen Schüler*innen, zwei jungen Frauen, drei ebenso unreifen Burschen, stellt, am lückenweise erhaltenen Faust-Fragment Heyms zu arbeiten. Der Faust hat, wie schon vor Goethe bekannt war, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Manche der Studenten versuchen das auch, verbünden sich mit dem Teufel, um Ruhm und Ehre (und nicht zuletzt fette Honorare) zu erlangen.
„Faust und der Teufel auf dem Mond“ ist der Satzfetzen aus Heyms Fragment, der der Ich-Erzählerin Katharina, mit dem je nach Lesart doppelt bedeutungsvollen Nachnamen Nachtrab, zugeteilt wird. Doch bald verlässt die Autorin Georg Heym, und der selbstherrliche Korbinian Brandner steht mit seinen Methoden, die Schüler*innen zu quälen, im Mittelpunkt. Es ist die Zeit nach der Wende, die Schule (als Vorbild dient eindeutig die staatliche Schauspielschule Berlin in der DDR, heute: „Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch“, wo auch die Autorin Regie studiert hat) ist in einem alten Turm untergebracht und es herrscht noch Zucht, wenn auch nicht Ordnung, wie zu DDR-Zeiten. Keine Überraschung, dass dieser zwielichtige Brandner einiges zu verbergen hat, wie auch jede(r) aus dem bunten Quintett der Studierenden ein Geheimnis mit sich herumschleppt.

François treibt sich gern nächtens auf dem Friedhof herum.  © berliner kurier.deZugleich wird auch die, kurz nach der Wende noch nicht wieder vereinte, Stadt Berlin ins Zentrum gerückt. Mit einem undurchsichtigen Freund kartographiert die Wessi vom Land, Katharina, die Stadt mit der Straßenbahn und allein mit dem klapprigen (sic) Fahrrad. Um auch in die Köpfe der anderen Vier einzutauchen – Nele, bereits Mutter; Tadeusz ein verschlossener Pole, der bei Brandner wohnt; Schwarz, der Filmregisseur werden will und seine Unsicherheit mit Überheblichkeit maskiert und der schüchterne, hypersensible François, der nachts auf den Friedhof schleicht, um Geheimnisse zu lüften –, muss sich die Autorin als Beobachterin einmischen und die Perspektive wechseln. Was keinen Erkenntnisgewinn bedeutet. Im Prinzip jedoch wird dieses Studienjahr, das am 16. Jänner 1996 abrupt endet, aus dem Blickwinkel der etwas naiven Katharina erzählt. Berlin 2009, Panoramafoto, Schönhauser Allee. © wikipedia.

Nicht nur die Student*innen verirren sich im wilden Gedankengestrüpp des Dichters Heym, der ein reiches lyrisches Werk hinterlassen hat, auch die Autorin verirrt sich ins Pathos des Satanismus, versucht eine kryptische-dämonische, unangenehm dampfende Atmosphäre zu erzeugen und gleitet dann wieder in kitschige Klischees ab. Oft donnert es, Wolken dräuen, Regen plätschert, der Himmel leuchtet diabolisch. Da bekomme ich Atemnot.
Schwarz flüchtet mitunter in die nahe Kirche. ( Immanuelkirche am Prenzlauer Berg). © wikipedia Ich darf annehmen, Neudecker hat Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“ gesehen, auch wenn sie bei seiner Fertigstellung erst 13 Jahre alt war. Der anfängliche Begleiter Katharinas, Zorbas, erinnert mich an Damiel, die Hauptfigur in Wenders Film, an dessen Drehbuch Peter Handke mitgearbeitet hat. Einen Vergleich dieser mehr als 30 Jahre alten poetischen Träumerei mit dem aktuellen Roman halte ich dennoch nicht für angebracht. Buchcover © Luchterhand Verlag

Wirklichkeit mischt sich mit Wahn, Pathos mit Grauen, ungeklärte Rätsel und düstere Geheimnisse überlagen die (möglicherweise) recherchierten Fakten. Nichts für mich, doch Ehre. wem Ehre gebührt: Christiane Neudecker, Regisseurin und Schriftstellerin, 1974 geboren in Erlangen, hat eine lange Liste von Förderpreisen und Stipendien vorzuweisen, der neue Roman wurde laut Verlagsaussage „Bereits im Vorfeld mehrfach ausgezeichnet.“ Für mich ist die Übung nicht gelungen. Der Kleinschreibe-Manierismus im Buchtitel sei mein Zeuge.

Christiane Neudecker: „der gott der stadt“, Luchterhand, 2019. 669 S. € 24,70. Auch als E-Book erhältlich.