Paulus Hochgatterer: „Fliege fort, fliege fort“
Mit dem aktuellen Roman „Fliege fort, fliege fort“ hat Paulus Hochgatterer, wie bekannt, nicht nur Schriftsteller, sondern auch Kinderpsychologe, seine Trilogie über Gewalt und Missbrauch in der Kindererziehung, welchen Kinder auch heute, auch in Mitteleuropa, immer noch ausgesetzt sind, abageschlossen. Es mag paradox klingen, wenn ich sage, dieses Buch erfreut (alle drei Romane der Trilogie erfreuen) mein Herz, denn der Roman ist (alle drei Bücher sind) so traurig, dass beim Lesen ein Taschentuch bereit liegen sollte. Es ist das offene und doch beruhigende Ende, das Freude macht und noch mehr Hochgatterers Stil. Ein Erzähler, der zwischen den Zeilen viel Platz lässt und die Freiheit des Selberdenkens gibt.
Eine kleine Stadt, ein See davor, ein Berg dahinter, die Natur rundherum, eine Kirche, ein seltsamer Pfarrer, der während der Messe Bob Dylan hört und eine Geliebte, eine marokkanische Gaststätte und ein paar schwarze Männer in Springerstiefeln, die dort ungeniert lümmeln und ihr Bier trinken, ein Jugendzentrum und ein Heim für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge, ein Spital mit einer psychiatrischen Abteilung, ein Polizeikommissariat, ein aufgelassenes Kinderheim, in dem kein Kind richtig froh geworden ist. Das ist Furth am See, der Mikrokosmos eines Kleinstadtbiotops als Analogie zum Makrokosmos Welt.
Vielleicht klingt das ein wenig theoretisch, doch in der erfundenen Stadt Furth leben auch Menschen: Der Psychiater Raffael Horn, der sich selten bewusst ist, dass er laut ausspricht, was ihm gerade durch den Kopf geht, seine Cello spielende Frau Irene, sein fast erwachsener Sohn, der neuerdings die Absicht hat, Künstler zu werden, der amtsmüde Kommissar Ludwig Kovacs, die Mitarbeiter*innen der beiden Männer, der marokkanische Wirt, der gerne Spruchweisheiten zum besten gibt, und seine entzückende Frau. Alles Menschen, die den treuen Leserinnen des Autors durch die beiden ersten Bände der Trilogie ( „Die Süße des Lebens“ und das „Matratzenhaus“, Zsolnay Verlag) vertraut und ans Herz gewachsen sind. Und natürlich auch Unbekannte, die sie kennen lernen dürfen.
Doch idyllisch ist in Furth nur die Natur, in der Stadt herrscht Gewalt, alte Männer und Frauen werden grausam gequält, doch sie wollen alle nicht darüber sprechen, erfinden Ausreden, wie geschlagene Frauen es tun, weil sie Angst haben. Und dann verschwindet auch ein Kind, entführt vermutlich, doch keine Lösegeldforderung trifft ein. Hochgatterer schließt die Leserinnen mit der entführten Elivra in ihr Gefängnis ein, sie muss sich täglich in einem anderen Räume aufhalten, der Entführer beschreibt es ihr und wir wissen schnell, wo wir uns befinden: im ehemaligen Kinderheim. Kovacs und seine Kriminalbeamt*innen finden keine Täter und keine Lösung; Horn und sein Team behandeln die schwer Verletzten und bekommen auch nichts aus ihnen heraus. Inzwischen muss Elvira ein Gedicht auswendig lernen, die grausigen Zeilen will sie nicht aufsagen. Es ist ein Zitat aus Goethes „Faust“, das Lied, das Gretchen im Kerker singt. Ursprünglich aber gehören diese makabren Zeilen in das von den Brüdern Grimm aufgezeichnete Märchens „Von dem Machandelboom / vom Wacholderbaum“, das ursprünglich der Maler Philipp Otto Runge in der Zeitschrift des Dichters Achim von Arnim erzählt hat. Die Titelzeile des Romans „Fliege fort. Fliege fort“, hat Hochgatterer hinzugefügt.
Auch wenn ein Kommissar ermittelt und Verbrechen geschehen sind, hat Hochgatterer keinen Kriminalroman geschrieben, „Fliege fort. Fliege fort“ ist spannend, weil Menschen näher kennen zu lernen und zu beobachten (und wie sehr eine Leserin auch in eine Lektüre hineingezogen wird, sie bleibt immer auch Zuschauerin) immer spannend ist, doch wenn ein marketinggerechtes Adjektiv notwendig ist, dann sage ich „unheimlich“. Über all dem Sonnschein, dem Bad im See, dem Vogelgezwitscher und den Cellosonaten liegt etwas Ungreifbares, Unverständliches, Geheimnisvolles, bis der graue Schleier zerrissen wird und die Luft wieder rein ist. Auch das Böse ist fortgeflogen, doch der graue Schleier schwebt weiterhin über der Leserin.
Auch wenn die Personen, Orte und Geschehnisse imaginiert sind, so zieht der Autor seine Leserinnen doch mitten ins Leben, ohne jemals zu behaupten, ganz Furth (die ganze Welt), wäre ein Sumpf und keine Hoffnung vorhanden. Er lenkt den Fokus abwechselnd auf die handelnden Personen und gibt damit unterschiedliche Blickwinkel frei. Die jeweiligen Handlungsstränge fließen ineinander, doch schon mit dem ersten Satz eines jeden neuen Schauplatzes weiß ich ganz genau, durch wessen Augen, in wessen Gehirn ich jetzt schaue.
So soll Literatur sein, bewegend und entzückend, voller kluger Gedanken, verständlich und voll von Geheimnissen in angenehm fließender Sprache geschrieben.
Paulus Hochgatterer: „Fliege fort, fliege fort.“, Zsolnay 2019. 288 S. € 23,70. Auch als ePub verfügbar.
"Der Hände Werk", Paulus Hochgatterer, Bettina Balaka und andere sprechen im Literaturhaus NÖ über das Handwerk des Schreibens. 3. Oktober 2019, 19 Uhr, Literaturhaus NO, Krems.