Marco Bellocchio: „Träum was Schönes“, Drama
Neun Jahre ist Massimo alt, als die geliebte Mama verschwindet „Sie ist jetzt im Himmel, das hat sie sich gewünscht, nur so kann sie dein Schutzengel sein“. Mit diesem Märchen, das er nicht verstehen will, lebt Massimo auch noch als Erwachsener. Den Verlust der Mama kann er nicht überwinden, versetzt sich lieber zurück in die Vergangenheit und lässt sich von einem geheimnisvollen Dämon, dem Belfagor, leiten. Niemand sagt ihm, was wirklich passiert ist. Mit „Träum was Schönes“ zeigt der bald 80jährige italienische Meisterregisseur Marco Bellocchio ein Drama, das durch seinen genauen Blick, durch Feingefühl und den Verzicht auf Pathos nie zur Schnulze gerinnt.
„Fai bei sogni“, sind die letzten Worte, die der neunjährige Massimo von seiner Mutter hört. Liebevoll streicht sie dem schläfrigen Buben die Haare aus dem Gesicht und verschwindet. Ein Leben voller Heiterkeit, Gesang und Tanz und fröhlichem Versteckspiel und den intimen Fernsehabenden mit dem unheimlichen Belphegor ist zu Ende. Niemand sagt dem Kleinen, was wirklich passiert ist. Erst mit über Vierzig stellt er sich dieser Lüge, die ihn belastet und in der Vergangenheit festhält, und erfährt die Wahrheit. Die geistig labile Mutter hat sich umgebracht. Sie hat ihn verlassen, rücksichtslos in die Einsamkeit gestoßen. Ein Traumbild zerfällt, Massimo wird endlich erwachsen.
„Fai bei sogni“ – Italienisch klingt der Satz einfach schöner, weicher, melodiöser, – ist auch der Titel des autobiografischen Romans, nicht nur in Italien ein Bestseller, von Massimo Gramellini, auf dem Belocchios feiner Film beruht. Doch er nimmt das Schmalz aus der Geschichte heraus und hat mit Valerio Mastandrea einen Hauptdarsteller, der auf jegliche Larmoyanz verzichtet, in intensivem Spiel die Suche nach seiner Identität sucht.
Belocchios facettenreicher, intelligent geschnittener Film geht aber über das persönliche Drama von Massimo hinaus. Diese starke Bindung der Söhne an die nicht nur in der Küche herrschende italienische Mama ist ohnehin kein Einzelschicksal, sondern ein italienweites Trauma. Der Beruf Massimos als Sportjournalist und Kriegsberichterstatter gibt dem Regisseur überdies die Möglichkeit, in nahezu flüchtigen Bildern eine kritische Gesellschaftschronik der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu zeigen.
Noch ein Wort zu dem nicht nur die Träume des jungen Massimo beherrschenden Belfagor. Belfagor ist ein in der Literatur immer wieder verarbeiteter Dämon aus der jüdischen Mythologie. Schon um 1520 hat Niccolò Machiavelli eine Novelle verfasst: „Belfagor archidiavolo“. 1927 ist die erste Fernsehserie entstand, 1965 dann eine weitere Bearbeitung des Stoffes. Im Vierteiler aus Frankreich „Belphégor oder das Geheimnis des Louvre“ verkörpert Juliette Greco die Titelrolle. Die Serie war so populär, dass Citroën einen seiner Lastkraftwagen Belphégor genannt hat.
In Italien wurde die Horrorserie in sechs Teile zerlegt und war so erfolgreich, dass sie von RAI 2 zu RAI 1 übersiedeln durfte. Mehrmals wurde sie wiederholt, einmal als Vierteiler, dann in 19 kleinen Episoden zerschnipselt. Italien war besessen von „Belfagor“. Nicht verwunderlich, dass Massimo ihn anbetet und auch als Erwachsener um Rat fragt.
Der Vollständigkeit halber: 2001 wurde der Film „Belphégor“ mit Sophie Marceau in der Titelrolle fertiggestellt. Sowohl 1927 wie auch 1965 und 2011 ist mir Belfagor / Belphégor verborgen geblieben. Erst Marco Bellocchio hat mich auf den unheimlichen Geist aufmerksam gemacht. Sein Film wird anspruchsvolle Besucherinnen ebenso wenig enttäuschen wie alle, die sich mit erwärmtem Herzen unterhalten wollen.
Marco Bellocchio: „Träum was Schönes / Fai bei sogni“, mit Valerio Mastandrea, Barbara Ronchi, Bérénice Bejo, Guido Caprino, den Knaben Nicolò Cabras, Dario Dal Pero und anderen. Filmladen Filmverleih. Im Kino ab 20. Oktober 2017.