Alla Kovgan: „Cunningham“, Tanzfilm in 3D
Der Titel sagt es schon, die russische Filmemacherin Alla Kovgan beschäftigt sich mit dem großen Choreografen und Erneuerer des Tanzes Merce Cunningham (1919–2009). Allerdings lediglich mit seinen Anfangsjahren, bevor er die Berühmtheit und den ikonischen Status erlangt hat. Kovgan hat trotz akribischer Recherchearbeit keinen reinen Dokumentarfilm gedreht, sondern seine Choreografien zwischen 1942 und 1972 von jungen Tänzer*innen neu aufführen lassen, eindrucksvolle Orte gefunden und das bunte Spektakel in 3D auf die Leinwand gebracht. Ein Film, der die Freude am Tanz und Cunninghams neue Ideen und Experimentierfreude glamourös in Szene setzt.
Der hundertste Geburtstag Cunninghams im April 1919 dürfte der Anlass für Kovgans Vorhaben gewesen sein. Das erste Mal stimmte der Cunningham Trust zu, dass Choreografien des Meisters neu interpretiert werden. So sind zwei Drittel des Films reiner Tanz. Zwischendurch widmet sich Kovgan der Dokumentation der Zusammenarbeit Cunninghams mit anderen Künstlern, vor allem mit seinem Lebenspartner, dem Komponisten John Cage und dem bildenden Künstler Robert Rauschenberg. Cunninghams Idee war, dass Tanz und Musik gemeinsam auf der Bühne existieren können, jedoch unabhängig voneinander. Davon erzählt Kovgan nichts, sie wertet alte Interviews, Briefe und Fernsehauftritte aus, gibt aber keine Erklärung, was das Revolutionäre an Cunninghams Technik ist. Schwarzweiß sind die Dokumente aus der Vergangenheit, leuchtend bunt die Tänze der Gegenwart. Einstudiert hat die Choreografien Jennifer Goggans, wie die meisten ihrer 11 Mittänzer*innen in den letzten Jahren Mitglied der Cunningham Company. Diese ist auf Wunsch des Gründers nach einer Welttournee zwei Jahre nach seinem Tod 2011 aufgelöst worden.
Wenn ein Tanzfilm in 3D-Technik (Kamera Mko Malkhasyan) entstanden ist, kommt man an Wim Wenders Erfolgsfilm „Pina“ nicht vorbei. Alles was auf das 2011 entstandene und der 2009 verstorbenen Pina Bausch gewidmete Kunstwerk folgt, wird an "Pina" gemessen werden. Kovgan ließ sich inspirieren, kommt aber Wenders Werk nicht nahe. Sie lässt das Ensemble auf einem Hochhausdach, im Wald und in einem Tunnel tanzen und lässt Andy Warhols silberne Wolken wirkungsvoll schweben. Für „Summerspace“ hat Rauschenberg 1958 die Welt mit bunten Tupfen versehen: die Tänzerinnen stecken in gepunkteten Leotards, entworfen von Robert Rauschenberg wie der Raum. Morton Feldman hat den Sommertag komponiert. Ein pointilistisches Bild, die Tänzerinnen fliegen zickzack wie Libellen im Raum, verschmelzen mit dem Hintergrund, als wären die Wände durchlässig. Greenscreen macht‘s möglich. Doch Kovgan lässt das Kinopublikum nicht träumen, immer wieder unterbricht sie, wechselt die Perspektive oder schneidet den Tanzenden die Füße ab. Da wünsche ich mir dann doch schwitzende, keuchende Tänzer*innen auf die Bühne, da machen Kamera und Schnitt keine Spompanadeln um des Effekts willen. Noch einmal „Pina“ von Wim Wenders ansehen, damit nicht vergessen wird, wie ein Tanzfilm durch 3D wirken kann.
Beeindruckend ist die Erzählung, wie hart der Aufstieg Cunninghams und seiner Company in den frühen Jahren war. Was er gemacht hat, wurde verlacht oder gar als Schwindel bezeichnet; im Kleinbus fuhr die Company über Land von Auftritt zu Auftritt, mit leerem Magen und oft auch kalten Gliedern. Die Passagen über die ersten Jahre Cunninghams und die Zusammenarbeit mit Cage und Rauschenberg, auch sporadisch mit anderen Pop-Art-Künstlern (Roy Lichtenstein etwa oder dem ersten Videokünstler Nam June Paik) sind naturgemäß in schwarz-weiß. Manche Kostüme hat Cunningham selbst gestrickt. Doch er hat keine Geschichten erzählt, er wollte Körper im Raum, Bewegung und Sound unkommentiert nebeneinander / miteinander stehen lassen.
Alla Kovgans Film ist keine Biografie Merce Cunninghams, sondern als Kunstwerk für sich zu betrachten, mit fulminanten, perfekt ausgeführten Tanzszenen und einigen biografischen Erinnerungen. Ein Vergnügen für ein tanzaffines und ebenso für ein tanzfernes Publikum.
„Cunningham“, ein Film in 3D von Alla Kovgan, produziert in den USA, Deutschland und Frankreich. Kamera: Mko Malkhasyan. Ausführende Choreografin: Jennifer Goggans. Stereographin und 3D-Künstlerin: Josephine Derobe. Verleih: polyfilm. Ab 14. Februar 2020 im Kino.