Alfons Schilling: "Beyond Photography"
Noch bis zum 14. Mai ist im Fotomuseum WestLicht die eindrucksvolle Überblicksausstellung der fotografischen Arbeit des Schweiz Künstlers und Wahlwieners Alfons Schilling zu sehen. Schillings Werk ist nirgends einzuordnen, mit seiner rebellischen Neugier sprengte er die Grenzen aller Gattungen und Strömungen. Als Student an der Akademie für angewandte Kunst gehörte er Ende der Fünfzigerjahre mit Günter Brus zu den Wegbereitern des Wiener Aktionismus, ging jedoch dann eigene Wege.
"You see what you allow yourself to see / Du siehst, was du dir erlaubst zu sehen.“
Zum ersten Mal bin ich Alfons Schilling 1987 anlässlich der Ausstellung im Museum für angewandte Kunst begegnet. Damals hatte Schilling (1934–2013) seine geheimnisvollen Sehmaschinen gezeigt. Ich war hingerissen. Schon 1961 war in der Wiener Galerie Junge Generation eine Gemeinschaftsausstellung von Schilling und Brus zu bestaunen, die sich mit der Aktionsmalerei beschäftigt hat. Wie weit er das Medium Fotografie über seine Grenzen hinaus trieb, war erstaunlich. Schon damals hatte Schilling sich in den Cyberspace katapultiert und meine Sehgewohnheiten (zeitweise) verändert. Hologramme und Stereofotografien, öffnen die Bildoberfläche zu einem virtuellen Raum. Die aktuelle Ausstellung legt den Fokus erstmals auf die erweiterte Fotografie dieses Visionärs, der mit seinen Sehmaschinen und der Filmkamera experimentierte. Thema seines bahnbrechenden Schaffens ist eine Kritik der Wahrnehmung, die Entfesselung des Sehens selbst:
„It’s not what‘s on the picture – it’s what is behind it "
"Nicht was auf dem Bild ist, sondern das, was dahinter ist“ – ist das, was wir sehen sollen.
Koinzidenz, Absicht oder Zufall. Schon Mitte der 1960er Jahre ist im Insel Verlag der Roman „Caspar Coppenrath“ von Alfred Cordes erschienen, dessen Hauptfigur, Caspar C. aus Osnabrück, ein sonderbare Junge ist, der sich auch mit der Welt des Sehens befasst und mit seinen Augen und der Wahrnehmung experimentiert. Ob Cordes das Werk von Schilling gekannt hat, kann ich nicht sagen. In der 5. Auflage (C. Bertelsmann, 1992) ist der faszinierende Seh-Roman bei Amazon noch „gebraucht“ zu kaufen. Auch für Caspar Coppenrath ist Wirklichkeit nicht nur das, was wir sehen. Seine Sehmaschine ist die Umkehrbrille, mit der er neue Realitäten entdeckt und als Augenakrobat zum Wahrnehmungsforscher wird.
Schilling hat sich nie als Fotograf gesehen, auch er war ein Wahrnehmungsforscher, ein Kritiker des Schauens der das Verhältnis von Bild, Betrachtung, Raum und Bewegung untersucht hat. In einem Interview anlässlich seines 75. Geburtstages, erklärte er: "Ich wollte etwas machen, was sonst niemand macht. Ich bin draufgekommen: Alle verändern das Bild. Aber niemand verändert den Blick. Ich wollte das Sehen verändern." Und den Blick erweitern.
Mit der Linsenrastertechnik hat Schilling Bewegungen in einem einzigen Bild vereint und den beschleunigten Körper („Falling Man“ etwa) im Bild spektakulär aufgelöst. Die Bewegung liegt im Augen der Betrachterin. Das Ziel Schilings war, die Wahrnehmung von den physischen Schranken des Körpers zu befreien. Auch der Faktor Zeit spielte eine wesentliche Rolle in Schillings Arbeit. „Wenn ich mich bewege, so sehen meine beiden Augen keine zwei unterschiedlichen Bilder, doch zwei unterschiedliche Zeiten.“ Das Originalzitat findet sich im Katalog, nahezu rätselhaft grafisch aufbereitet:
„To see with 2 eyes is. To be in motion. Standing still is to be in motion. I am in motion, if I am in motion my two eyes see: Not 2 diff. views, but 2 different times. (Alternating between 2 times (eyes) is motion. Of course we know that, on the other hand (and that’s so important to me) 2 different times (eyes) simultaneously is: Space.. 2Ts=SP. 2 different times (eyes) simulaneously is : Space. 2 Ts = Sp. So would you please put on the Polaroid Glasses now!”
(Versalien und Unterstreichungen habe ich weggelassen.)
Begleitend zur Ausstellung und zum genauen Nachlesen und Betrachten ist ein ästhetisch und haptisch ansprechender Katalog im Verlag für moderne Kunst erschienen. Peter Weibel hat das Vorwort geschrieben, Texte von Roland Fischer-Briand, Erkki Huhtamo, Romana Karla Schuler, Andreas Spiegl, Felicitas Thun-Hohenstein und den Kurator_innen beleuchten Schillings außergewöhnliches Werk aus allen Perspektiven. Wie die Ausstellung bietet auch das Katalogbuch einen Stereobetrachter, um die Schillingschen Stereofotografien erfahrbar zu machen. Was, ich muss es gestehen, mir nicht gelungen ist. Sind meine Augen für das Stereobild nicht geeignet? Eher versagt da vermutlich das Gehirn. Es funktioniert doch, man muss nur sehr nahe an die Bilder herangehen und den Fokus auf eines richten und warten.
Alfons Schilling: „Beyond Photography“, eine Ausstellung des Fotomuseum WestLicht in Kooperation mit dem Nachlass Alfons Schilling, kuratiert von Rebekka Reuter und Fabian Knierim.
Fotomuseum WestLicht, Westbahnstraße 40, 1070 Wien. Bis 14.5.2017. Öffnungszeiten: Di., Mi., Fr. 14–19 Uhr; Do. 14–21 Uhr, Sa, So. & feiertags 11–19 Uhr.
Katalogbuch: Alfons Schilling: „Beyond Photography“, Herausgeber Inés Ratz, Rebekka Reuter, Peter Coeln, Fabian Knierim. Vorwort: Peter Weibel. Verlag für moderne Kunst, 2017. Hardcover mit Stereobrille, 280 S. mit zahlreichen Abbildungen in Farbe und s/w. Textbeiträge: Deutsch / Englisch. € 48.