Boris Eifman: „Giselle Rouge“– Wiederaufnahme
Choreograf Eifman widmet sein aufwühlendes Ballett „Giselle Rouge“ der berühmten russischen Ballerina Olga Spessivzeva. Deren Lebensgeschichte gleicht einem Filmdrehbuch. Und wie im Film, "Black Swan", endete ihre Karriere in einer psychiatrischen Anstalt. Das Wiener Staatsballett tanzt die Wiederaufnahme in der Volksoper. Nina Poláková und Ioanna Avraam sind abwechselnd in der Titelrolle zu sehen.
Wenn Eifman von seiner Kindheit erzählt, dann ist zu spüren, dass sein Interesse an der Ballerina Olga Spessivzeva durch mehr gefördert wird als durch künstlerische Verehrung. Beide, der 1946 im sibirischen Rubzowsk geborene Choreograf und die 1895 in Rostow am Don zur Welt gekommene Olga Spessivzeva hatten nicht nur unter Entbehrungen und Armut zu leiden sondern auch unter den Beschränkungen der autoritären politischen Systeme.
Dass Olga nach dem frühen Tod des Vaters von der Mutter ins Internat gesteckt worden ist, mag ein Glück gewesen sein. Gab es doch Verbindungen zur St. Petersburger Ballett Akademie und Olgas Tanz-Besessenheit wurde bald in die richtigen Bahnen gelenkt. Schon mit zehn Jahren ist sie durch ihre grazile Schönheit aufgefallen, aber auch wegen ihres Perfektionismus. Schon früh wurde sie ins Corps de Ballet des Mariinski Theaters aufgenommen und durfte 1915 ihre erste Aurora („Dornröschen“) tanzen. Sergej Diaghilev holte sie zu den „Ballets Russes“ und stellte sie in New York vor. Brav kehrte die Spessivzeva danach wieder zu ihrer Stammtruppe in St. Petersburg zurück und triumphierte am 30. März 1919 zum ersten Mal als „Giselle“ im gleichnamigen Ballett zur Musik von Adolphe Adam.
Besonders bewundert wurde ihre eigenständige und aufwühlende Interpretation der „Wahnsinnsszene“. „Sie ist Giselle. Glaubwürdiger und mehr zu bewundern als die Pavlova oder die Karsavina“, urteilten die Kritiker nicht nur in der Heimat. Gut getan hat ihr diese Identifikation nicht. Die Spessivzeva hat sich immer mehr in die Rolle der Giselle fallen lassen, sodass sie schließlich meinte, selbst Giselle zu sein. Verwirrt und orientierungslos wurde sie in die Psychiatrie gebracht. Später, noch tanzte sie in St. Petersburg. Doch immer weniger, im weißen Tütü, die Revolution wollte auch auf der Bühne statt Spitzenschuhen Soldatenstiefel sehen.
Der letzte Winter des grausamen Bürgerkriegs, war eine Katastrophe, eisig kalt, im Mariinski Theater brachen Strom und Heizung zusammen, Olga erkrankte an Tuberkulose und wurde für ein halbes Jahr auf Kur in den Kaukasus geschickt. Die schrecklichen Zeiten wurden immer schrecklicher, nach ihrer Genesung, wollte sie unbedingt nach Europa, die Oper in Paris war ihr Ziel. Es war nicht einfach, eine Ausreiseerlaubnis zu erhalten. Doch ihrer Hartnäckigkeit (und der Hilfe ihres Liebhabers, eines Tschekisten, im Ballett: der Kommissar) gelang es 1924 die Heimat zu verlassen. Die Vielgeliebte wurde zur Ungeliebten.
Mit dem Engagement an der Paris Oper eroberte sie zwar das Publikum doch wirklich glücklich war die schwierige Künstlerin nicht. Nach drei Jahren wechselte sie wieder zu den Ballets Russes. Noch bevor sie wie versprochen „Giselle“ tanzen konnte, starb Diaghilev 1929 in Venedig. Die sensible Spessivzeva war aus der Bahn geworfen. Rettung kam von der Camargo Society, einem Londoner Ballett-Produktionsunternehmen: Die Spessivzeva tanzte „Giselle“ im Savoy Theater und stritt wie immer, mit allen und jedem. War stur, eigenwillig, vertragsbrüchig, unduldsam, doch unberührbar, verehrt und gefürchtet zugleich.
Als sie 1934 für ein vierwöchiges Engagement in Australien ankam, wog Olga Spessivzeva nur 44 Kilogramm. Sie war für „Raymonda“ engagiert und ließ sich durch die mittelalterliche Geschichte von Frauenraub und Liebe offenbar verwirren. Erinnerungen an die Zeit in der Sowjetunion, als eine ihrer Freundin bei einem Bootsunfall umkam, vielleicht ermordet worden war, kamen hoch, Olga Spessivzeva fühlte sich verfolgt, von Spionen umgeben, hörte Stimmen, die ihr drohten, die Beine zu amputieren. Aber auch die Sehnsucht nach der russischen Heimat quälte sie, an eine Rückkehr war jedoch nicht zu denken. Sie war eine „Abtrünnige“, wurde selbst verdächtigt, Spionin zu sein. Dennoch tanzte sie jeden Abend. An einem der Abende knapp vor Ende der Tournee begann die Ballerina plötzlich zu improvisieren, verlor die Orientierung, wusste weder wo sie war, noch in welchem Stück sie tanzen sie sollte. Ihr Partner, Anatole Vilzak, versuchte die Vorstellung zu retten, doch schließlich musste der Vorhang fallen. Für die Vorstellung und damit auch über Olga Spessivzeva, einer der größten Ballerinen des 20. Jahrhunderts – „von bezauberndem Liebreiz“, doch „zerbrechlich wie ein filigranes Gespinst im Wind.“
Keine ihrer Nachfolgerinnen, die sich nicht an ihrer Interpretation der Giselle orientiert hätte.
Die schlafende Ballerina. Nach dem Zusammenbruch brachte sie ihr damaliger Lebensgefährte, Leonard Brown, zurück nach Paris, wo sie nach einer Ruhepause 1935 noch einmal in der Opéra Comique auftrat. Weil der Erfolg nicht zu ihrer Zufriedenheit war, schwor sie, nie wieder zu tanzen. Nur eine Ausnahme machte sie noch 1937, als sie in einer Gala in Buenos auftrat. Ihre Depression wurde wieder akut als ihr Gefährt an einem Herzinfarkt starb. Da war niemanden mehr, der sie unterstützt hat. 1942 verschwand sie in einer psychiatrischen Anstalt. 20 Jahre verbracht die Spessivzeva hinter Gittern. Ihre Beteuerungen: „Ich bin Giselle, Étoile an der Pariser Oper“, wurden als Fantasien einer Verrückten abgetan. Viele ihrer ehemaligen Kolleginnen hielten sie für gestorben. Erst 1962 gelang es einem Freundeskreis unter dem Tänzer und Choreografen Anton Dolin Olga Spessivzeva in der Tolstoi Stiftung, einem Heim für russische Emigrantinnen unterzubringen. Die „schlafende Ballerina“ war wieder erwacht und zeigte auch ein erstaunliches Erinnerungsvermögen. Erst 1991 ist Olga Spessivzeva im Alter von 96 Jahren verstorben.
Die rote Giselle. 1997 hat Boris Eifman ihr mit dem Ballett „Giselle rouge“ ein Denkmal gesetzt, nicht nur weil die „Giselle“ ihre berühmteste Rolle war sondern auch weil „ihr Schicksal dem von Giselle so ähnlich ist.“ Auch dass er seinen ganzen Mut zusammennehmen musste, erzählt Eifman, um diese Hommage an eine Flüchtige noch vor der Auflösung der Sowjetunion herauszubringen. Mit Szenen aus dem Leben der sensiblen Ballerina führt der Choreograf das Publikum von der bolschewistischen Revolution und der Ermordung ihres Bruders nach Paris, von der Insel seliger Künstlerinnen zum Horror der Bespitzelung und Unterdrückung bis zur Melancholie des Exils und dem Zusammenbruch.
Neue Besetzung. Auch wer mit der Vita der berühmten Tänzerin nicht vertraut ist, wird Eifmans klare Erzählweise verstehen und der Handlung folgen können. „15 Szenen in zwei Akten, originell und tief bewegend“ urteilten die Kritiker. Olga Esina, die die Wiener Premiere der als „körperlos“ beschriebene Ballerina getanzt hat, wird in wenigen Wochen ihr Töchterchen zur Welt bringen. Nina Poláková wird bei der Weideraufnahme alternierend mit Ionna Avraam die rote Giselle sein. Andere Hauptfiguren sind nicht so deutlich definiert: Ein Kommissar der Geheimpolizei (Vladimir Shishov / Mihail Sosnovschi) der Lehrer (Kamil Pavelka / Andrey Teterin) oder der Pariser Tanzpartner (Robert Gabdullin / Roman Lazik) treten neben viel Volk auf. „Rot“ ist Giselle übrigens weil sie durch einen ihrer ersten Anbeter, einen Geheimpolizisten, in die „rote“ Welt eingeführt worden ist, aber auch weil das neue Regime bald forderte, dass sich auch die weißen Ballerinen dem roten Terror unterzuordnen hätten.
"Giselle Rouge“, Ballett von Boris Eifman, Musik von Peter Iljitsch Tschaikowski, Alfred Schnittke, Georges Bizet, Adolphe Adam. Wiederaufnahme 31. März 2017, Wiener Staatsballett in der. Weitere Vorstellungen: 6., 18., 25. April, 3., 5. Mai 2017.