Laurent Chétouane lässt den Text tanzen
Der in Deutschland lebende französische Regisseur und Choreograf Laurent Chétouane setzt Kleists Text über den Verlust der Anmut in Bewegung. Heinrichv on Kleits Essay "über das Marionettentheater" dient ihm als choreografische Parittur für sein Stück "Considering / Accumulation", das er mit einem Duo aus Tänzerin und Ttänzer, einem Pianisten und einer Stimme aus dem Off auch im Tanzquartier gezeigt hat.
Wenn der Theaterregisseur und Choreograf Laurent Chétouane von seinem jüngsten Stück, „Considering / Accumulation“ in perfekten Deutsch erzählt, ist nur ein leichter Hauch seiner Muttersprache Akzents zu hören. Der Franzose hat sich in die deutsche Sprache verliebt und parliert perfekt. Also liegt es nicht an seinen Sprachkenntnissen, dass er trotz aller Bemühungen, sich verständlich zu machen, immer wieder auf fassungsloses, mitunter empörtes, Unverständnis trifft. Das unaufdringliche Auftreten und die (durchaus lebhafte, mit Gesten akzentuierte) Gelassenheit verbieten es, ihm das Epitheton vom „Enfant terrible“ umzuhängen, doch in seiner zähen Unbeirrbarkeit, seiner Prägnanz und Beharrlichkeit spaltet er die Kritikergemeinschaft. Nicht nur in Deutschland, wo er als Theaterregisseur bekannt – auch berüchtigt – geworden ist. Auch die Landsleute, die seine umstrittenen Theaterinszenierungen gar nicht kennen, ihm nur als Choreografen begegnen, finden seine Werke zumindest rätselhaft.
Ursprünglich wollte der 1973 in der Charente geborene Laurent Chétouane Ingenieur werden. Um das Studium zu vollenden und auch der Liebe (anfangs war es nicht die Sprache) wegen, ist er mit 23 nach Bochum gekommen und hat an einem Abend im Schauspielhaus Heiner Müllers letztem Theaterstück „Germania 3 – Gespenster am toten Mann“ entdeckt. Da wars um ihn geschehen. Vom Inhalt hat er zwar nicht viel verstanden, „doch der Text hat mich fasziniert. Ich wollte unbedingt weiterlesen.“ Mit dem Wörterbuch daneben.
Der Ingenieurberuf war Vergangenheit, das Theater die Zukunft. Mit dem Studium der Theaterwissenschaft an der Sorbonne, und der Regie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main erwarb er sich das Rüstzeug, um sich mit Verve auf die deutschen Klassiker zu stürzen: Schiller und Goethe, Büchner und Hölderlin, Heiner Müller sowieso und auch Elfriede Jelinek. Leicht hat er es weder sich, noch den Darstellerinnen und dem Publikum gemacht. Von fünf Stunden langem Stillstehen auf der Bühne kann man lesen und von seinem Ansinnen an die Schauspieler „nicht zu rezitieren, nicht zu interpretieren, sondern einfach nur den Text zu sprechen.“ Chétouane regte auf, wenn auch nicht immer an – in Mannheim und Weimar, München und Köln, in Zürich, Oslo und Hamburg. „Don Karlos“ hat er 2004 am deutschen Schauspielhaus (manche sagen „nicht“) inszeniert. „Die Wucht des Textes“ hatte es ihm angetan. Sie dauerte fünf Stunden. Publikum und Kritiker stöhnten vor Langeweile. Den jungen Regisseur focht das nicht an, er langweilte sich kein bisschen und verteidigt sein Konzept: „Ein Theaterabend darf anstrengend sein.“ Bei aller konzeptuellen Konsequenz: Beschimpfungen durch die Darsteller mochte er nicht. Das Ensemble blieb nach der Premiere ungeküsst.
Texte zum Tanzen. Das Lesen bescherte ihm dann ein Aha-Erlebnis und Laurent Chétouane wandte dem Sprechtheater den Rücken, um die Texte tanzen zu lassen. Im freien (modernen, postmodernen, zeitgenössischen) Tanz oder, neudeutsch, der Performance sind die Türen weit offen. Gilt es doch geradezu als Gesetz, die alten Kleider abzuwerfen, Tradition ist da, um negiert zu werden. Experimentieren, das Mögliche und das Unmögliche zu erforschen und das Material, also den eigenen Körper, zu ergründen und neu zu formen, ist dem freien Tanz inhärent. Chétouane war also willkommen, als er vor zehn Jahren samt seinen Textbüchern den Tanzboden betrat. Selbst als er J. S. Bachs „Johannespssion“ tanzen ließ, stand nicht die Musik im Zentrum sondern der Text, die Emotionen die diese traurige Geschichte in Tänzerinnen und Publlikum auslöst. Für ihn kann auch ein Text die Körper in Bewegung versetzen: „Wenn ich lese, sehe ich Bewegung.“
Die erste Choreografie – „Tanzstücks#1: Bildbeschreibung von Heiner Müller“, 2006, belohnt mit der Wild Card der RUHR.2010 – war noch gar nicht als Tanz konzipiert: „Es ist einfach passiert.“ Tänzer, so meint er, könnten „einen Text besser sprechen als Schauspieler.“ Der Text ist in Chétouanes Choreografien immer vorhanden, auch wenn er nicht zu hören ist, nur als Antrieb der Bewegungen in des Meisters Kopf kreist.
„Considering“ aber bietet hörbaren Text, literarischem Text aus den Lautsprecherboxen, Konzept gemäß völlig emotionslos gesprochen von Johann Jürgens. Schon lang bewegt Heinrich von Kleists Schrift „Über das Marionettentheater“ Chétouanes Synapsen. Bereits in „Tanzstück#1“ erschien es manchem Rezensenten als bewegten sich „an Fäden hängende Marionetten“. Kleists Essay sei schon immer der „Antrieb all seiner Tanzstücke“ trommelt das Marketingphone und widerspricht überzeugt der Behauptung, in Chétouanes Choreografien werde gar nicht getanzt.
Sei’s drum: Kleists Idee von der verlorenen Unschuld, die dem Körper / dem Menschen / der Welt die natürliche Anmut und Grazie genommen hat, sodass nur noch die Marionette (der Gliedermann ohne Bewusstsein) oder Gott (mit unendlichem Bewusstsein) diese Grazie haben, wird bewegt. Oder eher, wie Chétouane, der sich gern mit zeitgenössischen Philosophen und Theoretikerinnen auseinander (oder zusammen-) setzt, es ausdrückt: „Der Text bewegt die Körper, geht durch sie hindurch, umhüllt sie.“ Er verlangt von allen Körpern, dem der Tänzerinnen und dem des Publikums, zu vergessen und zu verlernen, was sie kennen. Neue Sichtweisen und Positionen sind einzunehmen. Anstrengung statt Belustigung, Veränderung statt Beharrung, Aufmerksamkeit statt Ablenkung!
Konkret: Zu sehen ist ein anderthalbstündiger Pas de deux (Gökce Senem Oĝultekin / Mikael Marklund) in vier Szenen, den vier Teilen des Kleistschen Essays entsprechend plus einer kurzen Ouvertüre. Zu hören ist neben der Stimme aus dem Off, Musik von Charles Ives, Anton Webern, Beat Furrer, Felix Mendelssohn und J. S. Bach, live gespielt vom jungen norwegischen Pianisten Mathias Halvorsen.
Wenn auch Kleists Text metaphorisch verstanden werden kann, nicht nur vom Tanz, sondern vom Leben in der Welt spricht, so ist es mehr als verständlich, dass Laurent Chétouane ihn für eine Auseinandersetzung mit dem modernden und zeitgenössischen Tanz hernimmt. Die köstlichen Beschreibung, der angeprangerten Ziererei und Unnatürlichkeit, „wenn sich die Seele (vis motrix) in irgendeinem andern Puncte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung“, erhellt worum es geht – um die Gravitation, die Balance und das Fallen, um die Übereinstimmung der bewegenden Kraft (vis motrix) – genannt die Seele des Tänzers – mit der Bewegung. Ganz abscheulich findet es C. wenn einer, wie „der junge F…“, kein Gespür für die Schwerkraft hat: „die Seele sitzt ihm (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen“. Chétouanes möchte erreichen, dass die „Seele“ seiner Tänzer_innen im im Schwerpunkt sitzt, sich im Gleichklang mit der Schwerkraft bewegt. „Dann ist der Körper nicht mehr schwer oder leicht, sondern beides zugleich.“
Laurent Chétouane: „Considering / Accumulations“, (Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater“) 19., 20.2. 2016, Tanzquartier