John Neumeier: Le Pavillon d’Armide / Le Sacre
Zwei gegensätzliche Ballette reiht John Neumeier aneinander, um einer Vorstellung die vom Publikum erwartete Länge zu geben. Die Fülle und Reichhaltigkeit des zur Musik von Nikolai Tscherepnin getanzten gut eine Stunde dauernden Werkes würde jedoch reichen, um einen unvergesslichen Abend zu erleben. Die Protagonisten Nina Poláková, Roman Lazik und Mischa Sosnovschi erzählen nicht nur vom Leid und der Einsamkeit des Tänzers Vaslaw Nijinsky, sondern von der Künstlerseele an sich und auch von der Zerrissenheit aller in die Welt geworfenen Menschen. In der Vorstellung vom 26. März hat Jakob Feyferlik den „Mann (Vaslaw Nijinsky)" getanzt.
Herzzerreißend intensiv tanzt Poláková als Romola, Nijinksys Ehefrau, Fürsorge und Hoffnung, Schmerz und Abschied. In einer der letzten Szenen mit dem kranken Mann scheint er ihr ganz fremd, kaum erkennt sie ihn noch und muss dennoch vom Arzt fast gewaltsam aus dem Krankenzimmer geführt werden.
Roman Lazik ist nicht nur „der Arzt“, sondern auch Serge Diaghilew, Nijinskys Mentor und Liebhaber, und Begründer von Les Ballets Russes. In seiner Eitelkeit durch die Heirat seines Lieblings schwer verletzt und von der Liebe enttäuscht, wirft er den weltberühmten Tänzer aus seiner Compagnie. Lazik tanzt den Abschieds Pas de deux mit den Nijinsky-Darstellern mit ergreifender Schärfe und ener Ausdruckskraft, die Wut und Trauer und auch die Anerkennung des Genies nahezu schmerzhaft spürbar macht.
Da kann der junge Tänzer Jakob Feyferlik nicht mithalten. Wie soll ein 22jähriger Verlust und Leid, Wahnsinn, Zerrissenheit und Resignation oder die Seligkeit, wenn Nijinsky sich in die Jugend und in Erfolge als Tänzer in den Ballets Russes träumt, tanzen? Noch kaum der Schule entwachsen, hat er noch zu wenig gelebt und erlebt, um die Tiefe der Empfindungen, die Leidenschaften und Leiden, die Neumeier von seinen Tänzer*innen verlangt, auch zu fühlen und zu zeigen. Feyferlik als hervorragender Tänzer macht zwar die Gesten, doch allein, mir fehlt der Glaube. Das zeigt, dass Legris mit der hektischen Erhebung junger Tänzerinnen und Tänzern zu Ersten Solist*innen, diesen zwar Freude bereitet, aber keinen Gefallen tut. Sie stehen zu früh an der Spitze und stoßen mit dem Kopf an den Plafond. Für ruhige Entwicklung ist ihnen die Zeit genommen.
John Neumeier, der sich seit der Jugend verehrend und intensiv mit dem Ausnahmetänzer befasst, hat drei verschieden lange Ballette als Hommage an Vaslaw Nijinsky, der mit 30 Jahren bei einer privaten Aufführung in St. Moritz einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten hat und 26 Jahre, bis 1945, in verschiedenen Kliniken als Schizophrenie-Patient, wortlos und sich eingeschlossen, gepflegt worden ist, gewidmet. Das kürzeste, „Vaslaw“, beschäftigt sich mit den Jugendjahren des Tänzers (Uraufführung Hamburg 1979, Neuproduktion für Wien 2014), im abendfüllenden Ballett „Nijinsky“ (Uraufführung Hamburg 2000) wird Nijinskys Leben und seine Karriere behandelt; „Le Pavillon d’Armide“ (Uraufführung Hamburg 2009, Premiere in Wien 2017) ist Neumeiers Antwort auf Michel Fokine Choreografie von 1907 für Les Ballets Russes, in der auch Nijinsky getanzt hat. Neumeier bezieht sich im Bühnenbild und den Kostümen auf die Originaldekoration von Alexandre Benois, zeigt auch Ausschnitte aus Fokines Choreografie, erzählt jedoch zur Originalmusik von Nikolai Tscherepnin von Nijinskys Aufenthalt im Schweizer Santorium „Bellevue“, wo er sich an glücklicher Tage und Figuren aus dem Ballett Fokines erinnert.
Schon wenn im Krankenzimmer, kurz nachdem ihn Romola Nijinsky verlassen musste, der Arz das Grammophon ankurbelt und eine Schallplatte mit Tscherepnins Musik (Neumeier hat tatsächlich eine alte Aufnahme aufgetrieben) spielt, um den Verwirrten zu beruhigen, erscheint aus der Dunkelheit eine geisterhafte Figur: Tamara Karsawina, romantisch-elegant getanzt von Maria Yakovleva. Die Karsawina war Mitglied der Ballets Russes und Partnerin Nijinskys. Auch Nijinsky selbst im Kostüm eines weißen Clowns (Denys Cherevychko) huscht vorbei und Davide Dato zeigt schemenhaft seine glanzvolle Interpretation des Danse siamoise – nur einen Augenblick lang tauchen sie in Nijinskys Erinnerung auf. Später werden sie direkt auf der Bühne tanzen, im Pas de trois auch mit einer zweiten Kollegin Nijinskys, Alexandra Baldina, die bei der Uraufführung von Fokines „Pavillon“ eine Solorolle innegehabt hat. In der aktuellen Vorstellung hat Natascha Mair die russische Tänzerin als zierliches Püppchen interpretiert. Diese Szenen werden nach der Originalchoreografie getanzt, wie auch das Aufrauschen der Paare der Ballets Russes wunderbar klassischer Tanz ist, und auch der zitatenreiche Pas de deux zwischen Armide (ganz zauberhaft Nina Poláková) und Nijinsky in eine andere Zeit und auch in eine andere Welt, weit weg vom Park des Sanatoriums, führt.
Nicht nur die Gestaltung der Charaktere durch die Tänzerinnen und Tänzer der Wiener Compagnie, auch die zwei Ballettsprachen, die Neumeier einsetzt, machen dieses Ballett so einmalig. Von den drei Nijinsky-Balletten Neumeiers ist mir der „Pavillon“ das liebste, höchstes Glück und tiefste Erschütterung bewirkend.
Michael Boder, der Dirigent, und das Staatsopernorchester interpretieren die Film-Musik Tscherepnins, dramatisch und melodienreich, mit dem nötigen Gefühl, ganz im Einklang mit den Tänzer*innen. Bei dem angehängten Stück „Le Sacre“ zu Igor Strawinskys Komposition „Le sacre du printemps“ fehlt mir die nötige Härte und die Präzision bei dem vom Komponisten vorgeschriebenen ständigen Rhythmuswechsel. Ketevan Papava als junge Frau, die von der Revolte, an die Neumeier in seiner Choreografie von 1972 gedacht hat, enttäuscht ist und als Opfer einsam zurückbleibt, lässt sich jedoch nicht beirren. Zart wie eine Elfe zeigt sie mit ihrem Körper die Sinnlosigkeit des wilden Aufschreiens, des sinnlosen Zerstörens, nicht von Auslagenfenstern, sondern auch von Menschlichkeit. Ganz anders als Rebecca Horner, die bei der Premiere 2017 mir mit der Wucht einer Wahnsinnigen, die nicht aufhören kann mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen, den Atem stocken ließ, zeigt Papava weniger Wut als Trauer. Sie ist ein gebrochenes Überbleibsel dieses wilden Haufens, in dem es schließlich doch nur darum ging, die Macht an sich zu reißen (noch einmal sei Zsolt Török „Bravo“ zugerufen), das sich nur noch stolpernd und stürzend bewegt und unendliche Melancholie ausstrahlt.
Manche Bilder, die Neumeier vor beinahe 50 Jahren kreiert hat, sind immer wieder nachgeahmt worden, sodass sie jetzt etwas abgeschmackt wirken. Allerdings, für die Tänzer*innen sind diese Bilder einer hysterischen Menge ganz neu, keine(r) von ihren war bei der Uraufführung schon auf der Welt. Und allein deshalb ist auch dieser „Sacre“ sehenswert, wie viele der neumeierschen Ballette ist auch dieser Teil der Ballettgeschichte. Die muss lebendig gehalten werden. Doch eigentlich tut dies vor allem Igor Strawinskys Musik, sie lebt auch ohne Tanz und hält diesen möglicherweise gerade deshalb in Schwung.
John Neumeier: „Le Pavillon d’Armide“, frei nach Alexandre Benois, Choreografie, Bühnenbild, Kostüme: John Neumeier; Musik: Nikolai Tscherepnin; Dirigent: Michael Boder. Mit Jakob Feyferlik, Nina Poláková, Roman Lazik; Maria Yakovleva, Natascha Mair, Davide Dato, Denys Cherevychko.
„Le Sacre“, Choreografie, Inszenierung, Bühnenbild, Licht und Kostüme: John Neumeier, Musik: Igor Strawinsky; Bühnenbildumsetzung: Heinrich Tröger von Allwörden; Lichtumsetzung: Ralf Merkel; Dirigent: Michael Boder. Mit Ketevan Papava, Sveva Gargiulo und Géraud Wielick, Fiona McGee, Eszter Ledán, Zsolt Török und Dumitru Taran und dem Corps de Ballet.
8. Aufführung am 26. März 2019, Wiener Staatsballett in der Staatsoper;
Noch eine Vorstellung in dieser Saison am 28. März 2019.
Fotos von Ashley Taylor, © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor