Skip to main content

Wiener Staatsballett: „Coppélia“, Premiere

Swanilda und Franz (Natascha Mair, Denys Cherevychko).

Pures Entzücken bereitet die von Pierre Lacotte rekonstruierte und teilweise neu choreografierte Fassung des nahezu 200 Jahre alten humorvollen Handlungsballetts „Coppélia“. Zur Musik von Léo Delibes, dirigiert von Simon Hewett, tanzt des Wiener Staatsballett die perfekte Mischung aus mimisch erzählenden Szenen und reinem Tanz. Zurecht wurde das Premierenensemble vom begeisterten Publikum in der Volksoper immer wieder vor den Vorhang gerufen.

Swanilda (Natascha Mair) träumt von Franz.Als Autorität für die Rekonstruktion romantischer und klassischer Ballette ist Pierre Lacotte auch in Wien kein Unbekannter mehr. Seine Rekonstruktion von „La Sylphide“ (nach Filippo Taglioni, Musik von Jean Schneitzhoeffer) ist seit 2011 im Repertoire des Wiener Staatsballetts, bei der jährlichen Nurejew-Gala sind immer wieder Ausschnitte aus von Lacotte rekonstruierten Balletten zu sehen. Mit seiner Rekonstruktion von „Coppélia“ nach Arthur Saint-Léon lernen wir ihn im letzten Akt auch als einfühlsamen und ideenreichen Choreografen kennen. Dieser abschließende Akt ist als Fest – zur Weihe einer vom Gutsherrn gespendeten Glocke und zugleich als Hochzeitsfeier für die von ihm beschenkten Bräute, zu denen sich auch Swanilda gesellt, die ebenfalls ihr Geldbeutelchen erhält – gestaltet und bezaubert mit  einer feinen Allegorie auf die Tages- und Nachtzeiten in stets wechselndem Licht, dem Defilee der Braupaare, Charaktertänzen und dem Grand pas de deux der beiden Protagonisten, Natascha  Mair und Denys Cherevychko.Franz (Denys Cherevychko) erklärt Coppélius (Alexis Forabosco) seine Liebe zu Coppélia.

Jetzt kann sich auch Denys Cherevychko, der die männliche Hauptrolle desVerlobten von Swanilda, Franz, tanzt, im Grand Pas voll entfalten. Im ersten Akt ist durch massenhaft auftretendes und die Beine schwingendes Volk kaum Platz für seine großartigen Sprünge. Die Volksopernbühne hat nicht die richtigen Dimensionen für ein Ballett, bei dem auch das Corps eine wichtige Rolle spielt. Doch Cherevychko zeigt, dass er ganz in seinem Element ist und nicht nur am energiegeladenen Tanz, sondern auch am neckischen Spiel seine Freude hat. Durch die Verletzung seines Kollegen, des Ersten Solotänzers Masayu Kimoto, ist Cherevychko noch mehrmals mit Natascha Mair und auch Maria Yakovleva als Swanilda zu bewundern.

Mair, der die Gestaltung der weiblichen Hauptrolle, Swanilda, anvertraut ist, kann vor allem als mechanische Puppe Coppélia überzeugen. Mit ihrem Porzellanteint, den großen Augen (zur Erinnerung, im Subtitel wird vom „Mädchen mit den Emaille-Augen) gesprochen) und ihrer zierlichen Figur gleicht sie tatsächlich einer Puppe, der hinter den exakten Roboter-Bewegungen der Schelm aus den Augen lacht. Hat sie im ersten Akt ihr Potential an Darstellungskunst noch nicht ganz ausgereizt, obwohl sie schon recht deutlich ihren Franz Mores lehrt, so gelingt ihr der zweite perfekt.  Im flinken Wechsel von den eckigen Bewegungen der Puppe zur weichen, romantischen Haltung der lebenden Swanilda führt sie Swanilda nimmt den Platz der Puppe Coppélia ein. (Eriona Bici, Natascha Mair). © Volksoper Wien YouTubeCoppéliusan der Nase herum. Der glaubt tatsächlich, seine lesend am Fenster sitzende Puppe Coppélia sei endlich lebendig geworden. Doch Swanilda will weniger den grummeligen Meister ärgern, als vielmehr ihrem Franz seine Verblendung vorführen. Der ist Coppélia, in die er sich verschaut hat, durchs Fenster nachgestiegen, doch Coppélius hat ihn überrascht, hält ihn fest und versetzt ihn mit einem Zaubertrank in Tiefschlaf, um ihm die DNA zu stehlen, damit Coppélia endlich Mensch werden kann. Im Taumel der Selbstüberschätzung fällt ihm nicht auf, dass er auf dem Glatteis tanzt, auf das ihn diese Puppe gewitzt führt. Coppélius (Alexis Forabosco) hält die verkleidete Swanilda (Mair) für seine Schöpfung Coppélia. © Volksoper YouTubeNur im Märchen gelingt es, einer Puppe Leben einzuhauchen, die aber war aus Pinienholz und recht ekelhaft zu ihrem Meister. Nicht Coppélia, sondern Pinocchio bekommt eine Seele.
Wie auch immer, was mir in der Bastelstube des Coppélius abgeht, ist das Unheimliche, das den Alten umgibt. Es klingelt, rasselt und kracht zwar in der Musik, doch unter den Dachbalken sitzen drei friedliche exotisch gewandete Männer, zwei machen Musik, einer blättert im großen Buch, in der Ecke steht ein wenig furchterregender schwarzer Mann im roten Mantel als unbewegliche Dekoration. So ist auch in diesem 2. Akt weder Schaudern noch Schrecken zu verspüren, sondern eine Riesenhetz zu sehen. Die Freundinnen Swanildas sausen wie eine Horde wilder Hummeln durch den Raum, Swanilda ziert sich ein wenig, bevor sie Coppélia entthront und selbst als perfekte Imitation auf dem Podest sitzt, wenn Coppélius sein Meisterwerk bestaunen will.

Natascha Mair kreiert Swanilda in Pierrre Lacottes Rekonstruktion von "Coppélia". Die Puppe, die sich in Lacottes Fassung nicht bewegt, wenn Franz ihr seine Kusshände zuwirft, wird von Eriona Bici, Mitglied der Jugendcompagnie der Ballettakademie, mit größter Körperbeherrschung dargestellt. Als Gast ist auch Franz Peter Karolyi, von 1983 bis 1999 Mitglied des Wiener Staatsopernballetts, in der Rolle des Bürgermeisters zu sehen. Den hinkenden, von der Dorfjugend immer wieder gehänselten alten Coppélius spielt Alexis Forabosco, vor allem in der Trinkszene mit Franz recht überzeugend.

Zum Gelingen des letzten AktSwanilda und Franz, ein schönes Paar (Natascha Mair, Denys Cherevychko).es tragen auch die Solist*innen des Stundenwalzers bei: Nina Tonoli als Aurora, Madison Young als Nacht und James Stephens als Abenddämmerung. Im Aufmarsch der Brautpaare springen Scott McKenzie und Arne Vandervelde um die Wette. Swanildas Freundinnen, fröhliche Teenagerinnen, die für jeden Spaß zu haben sind, werden von den Halbsolistinnen Elena Bottaro, Adele Fiocchi, Sveva Gargiulo, Eszter Ledán, Anita Manolova, Fiona McGee, Rikako Shibamoto und der quirligen Münchnerin Isabella Lucia Severi getanzt.

Sie alle, samt den vielen nichtgenannten (aber auf dem Programmzettel aufscheinenden) Mitgliedern des Wiener Staatsballetts, haben mit Taktgefühl und Anmut, Präzision und Spielfreude (dabei fallen mir auch die engagiert mitwirkenden Kinder der Ballettakademie ein) einen überaus unterhaltsamen und auch tänzerisch ergiebigen Abend gestaltet.

Prächtiges Finale: Swanilda im Kreis der Bräute und Freundinnen.Bühnenbild und die gelungenen bunten Kostüme sind von Lacotte nach den Originalentwürfen von 1870 adaptiert. Jean-Luc Simonini hat das Bühnenbild realisiert, Michel Ronvaux die Kostümzeichnungen umgesetzt. Simon Hewett, Erster Dirigent des Hamburg Ballett, hat mit dem Volksopernorchester umsichtig dafür gesorgt, dass Musik und Tanz ineinanderfließen und so die Fröhlichkeit dieses Balletts verdoppeln.
P. S.: Warum im mit vielen schönen Fotos (Ashley Taylor) ausgestatteten Programmbuch der Inhalt der Originalversion und nicht der aktuellen Aufführungen abgedruckt ist, bleibt eine unbeantwortete Frage.

Pierre Lacotte: „Coppélia“, Ballett in drei Akten zur Musik von Léo Delibes. Choreographie Pierre Lacotte (I und II Akt nach Arthur die Saint-Léon). Libretto: Charles Nuitter und Arthur de Saint-Léon. Ausstattung nach den Pariser Originalentwürfen (1870) adaptiert von Pierre Lacotte. Licht: Jacques Giovanengeli. Einstudierung: Anne Salmon. Dirigent: Simon Hewett. Premiere: 27. Jänner 2019, Wiener Staatsballett in der Volksoper.
Nächste Vorstellungen in dieser Besetzung: 30. Jänner, 2. Februar 2019.
Danach noch weitere sechs Vorstellungen bis 14. März in wechselnder Besetzung.
Sämtliche Fotos stammen von Ballettfotografen Ashley Taylor. © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor.