Sasha Waltz & Guests: “Kreatur”, St. Pölten
Ein schonungsloses Abbild der entmenschten „Kreatur“. Diesen Titel gab die in Berlin lebende Choreographin Sasha Waltz ihrer nun im Festspielhaus St. Pölten als Österreich-Premiere aufgeführten szenischen Arbeit, die mit eindringlichen Bildern, nicht zuletzt wegen der teils skulpturalen Kostüme, sezierend auf den Zustand der heutigen Gesellschaft blickt.
Sieben Tänzerinnen, weiße Kokons mit Beinen, betreten nach und nach die Bühne, suchen, irren. Nach und nach entledigen sie sich ihrer Hülle aus feinster Stahlwolle. Andere krümmen sich mit nacktem Oberkörper auf dem Boden. Die Rückwand strahlt kühl in silbrigem Anthrazit mit einem helleren horizontalen Streifen, sanft im Farbverlauf.
Ein schwarzer Tänzer (nicht nur körperlich überragt Corey Scott-Gilbert die auf hohem Niveau agierende Compagnie) kämpft mit einer silbrig schimmernden, transparenten Folie, die das Durchscheinende wie eine Linse verzerrt. Blackout. Die Gruppe bewegt sich im Staccato über die Bühne, spastische Wesen in transparenten Oberteilen und Röcken aus dunkelgrünem, metallisch schimmerndem welligem Drahtgeflecht.
Die Bühne ist den ganzen Abend leer, bis auf einen am rechten Rand stehenden schmalen weißen Kubus, auf den eine Treppe hinauf führt und dessen Plateau einseitig von einer hohen Wand begrenzt wird. Die Tänzer*innen drängen sich angsterfüllt, erst vor der Treppe, dann oben, einige erklimmen die Mauer, andere stürzen ab, werden mühsam gehalten. Ohne Musik hört man die Anspannung, das Keuchen. Bilder, die wir alle kennen von den Zäunen an Europas und US-amerikanischen Grenzen. Blackout. Ein Pfahl kommt ins Spiel. Und Sprache: Die Gruppe skandiert (französisch gereimt): „Großartig! Was bleibt in der Boutique der Buddhisten? Jetzt beginnen wir die Revolution über die Ozeane gegen die Grenzen der Geographie! Und Dominique ist das Vorbild. Das Leben ist phantastisch! Warum machst Du es Dir so schwer?“
Weitere Szenen folgen, über Gewalt, Macht und Ohnmacht (und die Gruppe schaut zu, macht mit), Hoffnungslosigkeit und Angst, Vereinsamung und Unschuld (in Weiß, hilflos, verzweifelt, aggressiv). Wie ein Seeigel den Oberkörper, Gesicht und Kopf mit langen klappernden Stacheln bewehrt, erscheint eine Tänzerin und malträtiert einzelne und die Gruppe, die die Verwundeten hält und stützt. Einer der seltenen Momente gelebter Solidarität. Doch großteils sind entseelte menschliche Körperhüllen zu sehen, die mechanisch, egomanisch geifernd nach dem Kick, ihr „Glücksversprechen“ einzulösen versuchen. Ein Mann zerrt und dreht eine Frau an ihren roten Haaren. Das tut weh. Am Ende des Abends steht eine Frau, allein, sich selbst mit einer der Folien umhüllend, im senkrechten Spotlight, noch sichtbar, wie im Zerrspiegel.
Mit „Kreatur“, uraufgeführt 2017 in Berlin, präsentiert Sasha Waltz nach zwölf Jahren Unterbrechung wieder eine Arbeit für ihre eigene Compagnie. Die niederländische Modedesignerin Iris van Herpen entwarf die Kostüme, die die Ästhetik der Performance und das verwendete, ja verwendbare Bewegungsvokabular wesentlich beeinflussen. Das Soundwalk Collective aus New York und Berlin entwickelte eine Sound-Kulisse, die einerseits rhythmisch komplex, dann aber auch mit bedrohlichen, gebrochenen Flächen zu unterstützen versteht. Wesentliche Teile der Musik basieren auf Field-Recordings an Industrie-Schauplätzen und in der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Urs Schönebaum, renommierter Lichtdesigner aus München, schuf in dieser seiner ersten Zusammenarbeit mit Sasha Waltz das Licht. Eher düster gehalten, wirksam akzentuierend.
Waltz entwickelte mit „Kreatur“ eine Tanz- und Theater-Performance, in der ungewöhnliche Tänzer*innen, neun Frauen und fünf Männer, jede(r) für sich mit ausgeprägtem Charakter und ungebügeltem Charisma, tänzerisch und darstellerisch beeindrucken. In teils magischen, immer kräftigen Bildern stellt die Choreografin den post-humanen Menschen und dessen Opfer vor. „Post-“ hier, weil beraubt seiner Fähigkeit zu Respekt, Empathie und Liebe.
„Kreatur“: Regie, Choreografie: Sasha Waltz; Kostüme: Iris van Herpen; Musik: Soundwalk Collective, Jane Birkin & Serge Gainsbourg; Lichtdesign: Urs Schönebaum. 8. Dezember 2018, Festspielhaus St. Pölten.