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Cirque Alfonse: „Tabarnak“, in St. Pölten

Cirque Alfonse: Akrobatik der Sonderklasse. © Audric Gagnon

Der Zirkus-Begriff muss geändert werden. Der Cirque Alfonse, eine Familien-Compagnie aus Kanada, zeigt zwar konventionelle Akrobatik-Elemente, in der Luft und auf dem Boden, mit dem Russischen Barren oder Jonglage mit Objekten, doch versucht die neunköpfige Truppe über die rein sportliche Darbietung hinauszugehen, einen erfahrbaren Inhalt und eine über die atemberaubende Körperleistung hinausgehende Aussage zu bieten. Am 30. November hat der Cirque Alfonse im Festspielhaus St. Pölten das Publikum in Dauerbegeisterung versetzt.

Cirque Alfonse baut den Turm zu Babel auf seine Weise. © Guillaume MorinDer Name des seit 2005 als „Cirque Alfonse“ erfolgreich auftretenden Familien-Clans leitet sich vom Wohnort der Gründerfamilie Carabinier Lépine her: Saint-Alphonse-Rodriguez in Lanaudière, wo der Zirkus seine Wurzeln hat, die auch in jedem Programm mit Inbrunst und Musik gepflegt werden.

Der Titel des neuen Stücks, „Tabarnak“, ist nur den Québecois(e) verständlich, ist er doch aus der Geschichte der frankophonen Bewohner*innen der kanadischen Provinz Québec erklärlich. Fällt einem dazu der Begriff „Tabernakel“ ein, dann liegt man nicht falsch. „Tabarnak“ ist ein Wort, das meist als Schimpfwort verwendet wird, doch auch Glücksgefühle können „tabarnak“ sein. In Québec, so erzählt Gruppenmitglied Antoine Carabinier Lépine, haben viele Kraftausdrück ihren Ursprung in der Kirche, die einst als Bollwerk gegen die Briten sehr mächtig war. In den 1960er Jahren wollte die Bevölkerung die Vorherrschaft der Priester nicht mehr ertragen. Ein säubernder Säkularisierungsprozess setzte ein, die abfällige Bezeichnung „tabarnak“ stammt aus dieser Zeit. Der Zirkusengel schwebt hoch in der Luft , das Kirchenfenster dient als Plattform. © Audric Gagnon

Alles klar! Diese Vorstellung findet in der Kirche statt. Ein buntes Glasfenster leuchtet im Hintergrund als Bestätigung. Die Männer tragen Bärte wie russische Popen, tragen selbstgestrickte Messgewänder, jonglieren mit silbrigen Weihrauchfässern, knallen mit Peitschen und bringen damit die aufgeblasene Ballon-Mitra auf dem Kopf des Bischofs zielsicher zum Platzen, bauen die Menschenpyramide hoch in den Himmel, die auf der Stirn balancierte Stange, auf der der Partner als Fahne schwebt, durchsticht die Wolken. In dieser Messfeier werden auch Litaneien gesungen, wird auf Knien gebetet (oder so getan als ob) und ein Taufritual vollführt. Die Gravitation wird überwunden und alles Irdische außer Kraft gesetzt. Für Stimmung sorgt die Musik von David Simard, folkloristisch, rockig, liturgisch, mit Fiedel, Orgel und Schlagzeug.

Rasanz und Schwung auf Rollschuhen. © Audric GagnonVon Beginn an schlagen die neun Mitglieder der Truppe (drei an den Instrumenten auf der Empore, sechs im Kirchenschiff, ihr höchst unkonventionelles Zeremoniell abwickelnd) ihr Publikum durch sprühende Laune, nie nachlassende Energie und Humor in Bann. Sie schaffen es, waghalsige mit verblüffender Leichtigkeit vollführte Zirkusnummern ihrem Thema unterzuordnen; Körperbeherrschung, Kraft und Ausdauer mit fröhlichem Augenzwinkern, Witz und Fantasie im Rhythmus der Musik in kirchliche Rituale zu verwandeln. Umbaupausen werden von Julie Carabinier Lépine mit feinen, französisch gesungenen Liedern überbrückt.Ohne Erdschwere an der Stange. Im Hintergrund das musikalische Trio. © Alexandre Galliez

Eine pralle, unterhaltsame Show, die eine Stunde für Staunen und Spannung sorgt. Die letzten 20 Minuten habe ich genug gestaunt, meine Aufmerksamkeit lässt nach, auch wenn die Flugnummern zum Abschluss ein letztes Wow hervorrufen.

Auf die Dauer fehlt mir etwas. Auch wenn der zeitgenössische Zirkus die einst mit Zelt und Menagerie reisenden Wandertruppen längst abgelöst hat, auch wenn sich die Artist*innen um Gehalt und Aussage bemühen, bleibt es bei der problemlosen "Unterhaltung für die ganze Familie". Fantastisch zwar und nett verpackt, bietet auch die Show  des Noveau Cirque Alfonse  lediglich eine Abfolge von staunenswerten Nummern, dem Varieté näher als Tanz oder Theater.

Cirque Alfonse: „Tabarnak“, Inszenierung: Alain Francœur, Cirque Alfonse. Akrobatik: Antoine Carabinier Lépine, Julie Carabinier Lépine, Jonathan Casaubon, Jean-Philippe Cuerrier, Genevieve Morin, Nikolas Pulka.
Musik: David Simard; Live-Musik: Josianne Laporte, David Simard, Guillaume Turcotte. Licht: Nicolas Descôteaux; Kostüme: Sarah Balleux; Ausstattung: Francis Farley. 30. November 2018, Festspielhaus St. Pölten.
Nachmittagsvorstellung am 1. Dezember 2018.