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Marie Chouinard: RADICAL VITALITY, SOLOS AND DUETS

Compagnie Marie Chouinard. © Sylvie-Anne Paar

Mit 30 Miniaturen aus 40 Jahren choreographischen Schaffens der großen kanadischen Künstlerin Marie Chouinard präsentiert das ImPulsTanz Festival im Volkstheater eine Retrospektive, die einen Einblick in ein einzigartiges Werk ermöglicht, das in seiner Vielseitigkeit und Originalität seinesgleichen sucht. Wem Marie Chouinard bisher noch nicht bekannt war, der wurde mit Sicherheit neugierig auf ihre abendfüllenden Arbeiten gemacht, doch auch wer sie  bereits kennt – seit 1988 ist die Chouinard als Tänzerin und Choreografin regelmässig im ImPulsTanz Festival vertreten –, hat Neues entdecken können. Einige der kurzen Stücke hat sie aus den Skizzenbüchern heraus eigens für diese Performance zu tänzerischem Leben erweckt.

Der Abend beginnt bereits vor dem Haus: Mit dem „Prologue: In Museum“ aus dem Jahre 2012 suchen zwei TänzerInnen auf eigens hergerichteten weißen Flächen den Kontakt mit ZuschauerInnen, die sich einzeln nähern und mit den TänzerInnen flüstern, die daraufhin kurze Bewegungs-Sequenzen starten. 20 Minuten, die Nähe herstellen, die die übliche Distanz zwischen Bühne und Auditorium aktiv überbrücken.

Cie. Marie Chouinard: Clementine Schindler, Scott McCabe © Nicolas RuelAuf der Bühne beginnt dann die gut zweieinhalb-stündige Show, die übrigens, dem Engagement des Intendanten Karl Regensburger ist es zu danken, anders als ursprünglich geplant, nun Act 1 und Act 2 beinhaltete, mit einem einminütigen „Zauberkunststück“ („Royal Bell“ von 2008): Eine Tänzerin steckt sich eine kleine Glocke in den Slip, dreht den Oberkörper etwas und holt „diese“ Glocke aus ihrem Mund. Im nächsten „Petite danse sans nom“ umgekehrt: Eine Tänzerin trinkt ein Glas Wasser und uriniert „dieses“ Wasser sogleich in den mitgebrachten Blecheimer; in der Stille deutlich vernehmbar. Es folgen 35 Sekunden bis gut 13 Minuten lange Stücke, in denen sich der ganze Reichtum, die Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit des Schaffens der Marie Chouinard, auch Leiterin der Tanz-Biennale Venedig, entfaltet. So zum Beispiel, wenn der Tanz zweier Hände-Paare, im vorderen Bühnen-Eck von zwei Tänzerinnen präsentiert, per Videokamera auf die große Leinwand im Hintergrund übertragen wurde. Phantastisch! Catherine Dagenais-Savard: Nur ein Ausschnitt aus dem abendfüllenden Tanzstück. © Sylvie-Ann Pare

Später einmal verformt eine Tänzerin ihr Gesicht, ebenso auf der Leinwand sichtbar gemacht („Visages“, 2001–2018). Wir sehen äußerst humorvolle Stücke wie „Crying-Laughing Duet“ aus 2010, in dem ein Paar, einer lachend, der andere weinend, alternierend eine Reihe von Gemütszustands-Änderungen durchmacht. Beziehungs-Dynamik at its best! Oder in „Love Attack #2“ aus 2003, die eine Frau zeigt, die, offensichtlich heiß verliebt, an ihrem Geliebten unter Jubelgeschrei immer wieder neue liebenswerte Körperteile entdeckt, die sie stürmisch abküsst. Oder die Compagnie erscheint mit übergroßen Masken, die die Gesichter bestens gelaunter alter Frauen zeigen.

Auftritt der Männer: Sebastien Cossette-Masse, Sacha Ouellette-Deguire. © Sylvie-Ann PareChouinard lässt oft mit freiem Oberkörper tanzen. Sie erzählt auf meist leerer Bühne, die nur vom Licht strukturiert wird, und zu vornehmlich elektronischen Sounds, aber auch zu Bruchstücken von Bachs Goldberg-Variationen und mit viel Stimm-Einsatz (Bellen, Kreischen, Sopran-Gesang und vieles mehr), von Aliens, Insekten und Behinderten, von Menschen allen Alters, von surreal bis mystisch, von Gefühlen aller Couleur, und das mit viel, auch abgründiger Ironie, klug beobachtet, tief empfunden.

Am Ende erscheinen alle zehn TänzerInnen wiederum mit Masken, dieses Mal Baby-Gesichter, und krabbeln an den vorderen Bühnenrand auf das Publikum zu. Das Licht erlischt und ein warm angerührtes Raunen geht dem begeisterten Applaus voraus. Mit ihrem sehr eigenständigen Bewegungs-Vokabular Choreografin Marie Chouinard, geboren 1955 in Québec. © wikipedia / prixduquebec / Rémy Boily, Free licenceund tänzerisch immer auf höchstem Niveau bringt Chouinard starke, komplexe und konzentrierte Bilder auf die Bühne. Der jeweilige Entstehungs-Zeitraum ist den Stücken beim Zuschauen nicht zuzuschreiben; sie alle wirken jung, frisch, modern, im besten Sinne zeitgenössisch. 
Dieser lange, niemals aber langweilige Abend ist ein Zeugnis einer ungemein produktiven wie kreativen Künstlerin, die dafür völlig zu Recht weltweit geschätzt, gefeiert und geehrt wurde und wird. Ein Highlight des Festivals!

Compagnie Marie Chouinard: „Radical Vitality, Solos and Duets Act 1 + Act 2“ Österreichische Erstaufführung); ImPulsTanz Festival. Choreografien: Marie Chouinard; Tanz: Compagnie Marie Chouinard; Musik: Louis Dufort, Frederic Chopin, Carles Santos, Rober Racine; Stimmpartituren: Marie Chouinard; Licht, Video, Bühne und Requisite: Marie Chouinard, Axel Morgenthaler; Kostüme: Marie Chouinard, Liz Vandal, Louis Montpetit.  24. Juli 2018, Volkstheater im Rahmen von  ImPulsTanz.
Weitere Vorstellungen: 26. und 28. Juli 2018: Volkstheater