Silvia Calderoni: „MDLSX“, Osterfestival Tirol
In beeindruckender Dramatik nähert sich das 30. Osterfestival Tirol seinem Ende am Ostersonntag 2018. Am Karfreitag hat das feinstimmige Collegium Vocale Gent unter Philippe Herreweghe mit der Johannespassion von J. S. Bach das große Drama vom Tod des Jesus aus Nazareth gestaltet. Bewegend und aufwühlend. Am Karsamstag erzählt Silvia Calderoni in einer Produktion der italienischen Theatercompagnie Motus im Solostück „MDLSX“ von der Ambivalenz der Geschlechtsidentität, von Konformität und Normalität, vomAnderssein, das Menschen zu Monstren stempelt. Die Bühnenpräsenz der Calderoni, ihre Spielwut und Authentizität lassen die jegliches theatralische Genre sprengende Performance zu einem fesselnden Erlebnis werden.
Silvia Calderoni, eine hagere Frau Mitte dreißig, spielt (ist?) eine transsexuelle Figur, als Mädchen geboren und erzogen, die in der Pubertät entdeckt, dass ihre Weiblichkeit nicht eindeutig ist. Die von den Motus-Gründern Enrico Casagrande und Daniela Nicolò konzipierten 80 Minuten bestehen aus einer Mischung von Autobiografischem, griechischer Mythologie und Zitaten aus dem gleichnamigen Roman von Jeffrey Eugenides (Middlesex, Rowohlt 2003), sowie von Philosophinnen wie Judith Butler oder Genderforscher_innen wie Donna Haraway oder Paul B. Preciado. Zugleich zeigt Calderoni ihr überbordendes Talent, tanzt wie eine Elfe zu sanften Melodien, springt wie ein Teufel im grellbunten Licht, erzählt, singt, beobachtet sich mit der Live-Kamera, ist wild und zart, ung und alt, weiblich und männlich zugleich. Begleitet wird sie von 22 Pop-Music-Tracks, die die einzelnen Szenen untermalen, und Videos mit Bildern aus dem Familienalbum oder auch Spiegel des aktuellen Bühnengeschehens.
Etwa in der Mitte der Performance liegt Calderoni auf der gold- und silber-, rot- ober blauschimmernden Folie, ein Laserstrahl teilt den Körper in zei Hälften. Ein beängstigendes, ein schauriges Bild. Doch es mangelt auch nicht an Humor, auch kennt Calderoni keine Scheu vor schönen Bildern: Als Nixe silbrigem Schwanz zeigt sie, wie sie als Teenager in der Unterwasser-Peep-Show aufgetreten ist. Vielleicht Erinnerung, vielleicht Fantasie, jedenfalls bühnenwirksam. Steht die Darstellerin mit dem Rücken zum Publikum an ihrem Requisitentisch im Hintergrund, wo sie ihre Kostüme, ihre Haare und Bärte, ihren Koffer, der die Bürde ihres Lebens symbolisiert, herholt, dann strahlt diese knochige, zerbrechliche Figur eine Einsamkeit aus, die mit die Tränen in die Augen treibt. Wer ander ist, ist auch allein.
Schon 2015, als „MDLSX“ in Italien uraufgeführt worden ist, war das Thema nicht mehr neu, brisant ist es immer noch und passt auch perfekt zum Motto des heurigen Osterfestival Tirol: „über.leben“. Unterschiedlich betont, bekommen die Silben auch unterschiedliche Bedeutung. Silvia Calderoni sucht ihre Bedeutung in der Natur. Videos von sich öffnenden Blüten dienen als Metaphern für das pure Sein, ohne jegliche Einteilung und Kategorisierung.
So will auch Calliope / Cal, die Hauptfigur in Eugenides‘ Roman, gesehen werden: Wie die Natur ist, einfach ich, so wie ich bin, XX oder XY, schön oder hässlich, jung oder alt.
Die Frage, wie das funktionieren soll, in einer Welt, die Normen benötigt, um bestehen zu können, wird kaum zu beantworten sein. Die fulminante Performance hat jedenfalls allerhand Stoff zum Nachdenken geliefert und zugleich eine eindrucksvolle Theaterpersönlichkeit vorgestellt.
Motus / Silvia Calderoni: „MDLSX“, Salzlager, Hall i. T., 31. 3. 2018, im Rahmen des Osterfestival Tirol.