Yang Liping / Comtemporary Dance: „Under Siege“
So großartig, faszinierend und hinreißend kann Krieg sein. Selbst die Toten, begraben unter abertausend blutroten Federn, strahlen Schönheit und Würde aus. Die chinesische Tänzerin und Choreografin Yang Liping erzählt mit ihrer Compagnie Contemporary Dance von einem mythischen Ereignis, der Schlacht von Gaixia, 202 v. Chr. „Under Siege / Unter Belagerung“ nennt sie ihr Stück, das im Festspielhaus St. Pölten die deutschsprachige Premiere feierte. Immer wieder fordert das nach fast zwei Stunden keineswegs ermüdete Publikum die Verbeugungszeremonie zu sehen, eine Performance nach der Performance. Der Applaus will nicht enden.
Die blutige Schlacht am Wu-Fluss zwischen zwei Stammesfürsten dauerte vier Jahre, dann siegte die Übermacht der Krieger Liu Bangs, der rief sich zum Kaiser aus und gilt als der Begründer der Han-Dynastie. Ihm zur Seite steht der General Han Xin, der, um seinen zwiespältigen Charakter zu verdeutlichen, von zwei Akteuren (der eine in engelsgleichem Weiß, der andere ein schwarzer Teufel) gespielt wird. Schon lange vor der Entscheidungsschlacht hat er die Seiten gewechselt, ist vom später unterlegenen Xiang Yu zum erfolgreichen Liu Bang gewechselt.
In „der Belagerung“ führt ein Erzähler, (Xiao He) mit tänzerischen Bewegungen, Gesang und Text auf Chinesisch in die Geschichte ein, und lässt das Publikum die letzten entscheidenden Stunden erleben. Yang Liping und ihr Ausstatter Tim Yip gestalten die Geschichte zu Bildern von betörender Schönheit.
Bühne und Kostüme halten sich an traditionelle chinesische Elemente: Ungezählte Scheren hängen von der Decke als Zeichen der Bedrohung, die vom Himmel sanft fallenden roten Federn sind nicht nur ein Symbol für Leichtigkeit, sondern auch für die Schwere – des Krieges, des Lebens, der Entscheidungen. Das Fußvolk, Männer und Frauen, sind ganz in Schwarz gekleidet. Die Solisten jedoch (auch die Frauenrolle der Konkubine des Verlierers wird von einem Mann getanzt) stecken in prächtigen Kostümen, stolzieren in goldenen Mänteln mit kronenartigen Gebilden wie Käfige auf dem Kopf in die Schlacht.
An der Rampe sitzt im weiten weißen Kleid, zart und emsig, Wang Yang, eine Meisterin der chinesischen Kunst des Scherenschnitts. Aus weißem Papier schneidet sie unermüdlich Wörter, Phrasen und Namen, hält die Kunstwerke als Szenenüberschriften hoch. Manchmal gibt es eine deutsche Übersetzung auf dem Display, die ist nicht immer passend.
Die Livemusik auf den mehrsaitigen, lautenartigen Instrumenten (Pipa, Zhongruan) und der chinesischen Harfe (Gu Zheng) wird aufs anmutigsten von Du Yichen und Feng Xinaofan beigesteuert. Eher westlich angepasst klingt die elektronische Begleitmusik, wenn der Erzähler schweigt.
Yang, eine in China noch immer hoch berühmte ehemalige Tänzerin, bietet in ihrer Choreografie chinesische Elemente und zeitgenössischen Tanz mit einem von ihr entwickelten Bewegungsvokabular. Doch besteht der Tanz vor allem aus wirbelnden Luftsprüngen und gewagten Saltos à la Kung Fu.
Im Zentrum aber steht die Erzählung von Treue und Verrat, von Machtgier und Grausamkeit und vom Krieg, den der Grieche Heraklit „den Vater Aller, der Menschen und Götter, Sklaven und Freien“ nennt. In eindrucksvollen Tableaus, einer Scharade gleich, werden die handelnden Personen vorgestellt und charakterisiert. Eine besondere Rolle hat Hu Shenhuan. Er tanzt im leuchtend roten Futteralkleid die „ergebene Konkubine" von Xiang Yu. Seine Bewegungen sind feminin, schmiegsam und elegant und kommen am ehesten westlichem Tanz nahe. Als Yu JI erkennen muss, dass ihr Geliebter die Schlacht verloren hat, bringt sie sich um. Xiang Yu beweint sie lange und gibt sich ebenfalls den Tod. Eine stille, überaus berührende Szene. Auch den toten Kriegern beider Seiten wird am Ende Ehre erwiesen.
Der Krieg ist vorbei, die dumpfen Schläge auf die große Trommel sind verstummt, nur noch das Klagelied der Laute ist zu hören. Liu Bang, der Sieger, krönt sich zum Kaiser, der doppelte Han Xin wird ihn weiter beraten. Dabei, so sagt die Historie, kommt nichts Gutes heraus. Die Han-Dynastie regierte China mit einer kurzen Unterbrechung vierhundert Jahre, von 207 v. Chr. bis 220 n. Chr.
Mit ihrer ersten großen Produktion, die Yang Liping auch in Europa zeigt, ist es ihr auf traditioneller chinesischer Basis gelungen, mit Blick auf die Peking Oper, Volksmusik und bildende Kunst, ein modernes Tanztheater zu kreieren, das trotz aller Fremdheit auch beim westlichen Publikum ankommt und schwer beeindruckt. Ein bilderreiches, halluzinatorisches Theater mit energiegeladenen Tänzern, die durch ungeahnte Virtuosität verblüffen und auch feinen Humor aufblitzen lassen. Faszinierend ist auch die Lichtregie von Fabiana Piccioli: Gleißende Helligkeit wechselt mit unheimlichem Dunkel, Schlachtenrauch verhüllt die Gestalten, die im Hintergrund bereits als Gerippe erscheinen, hart funkelndes Gold und blutiges Rot illustrieren auch die Gefühle der Protagonisten. Pathos ist ein wesentliches Element der Pekingoper, des eigentlichen Bühnenereignisses in China.
Die Geschichte vom Kampf zwischen Xiang Yu und Liu Bang ist in China jedem Kind bekannt. Nicht nur in den Schulbüchern wird sie erzählt, auch die Pekingoper, Romane und der Film haben die zum Mythos gewordene Schlacht in immer neuem Gewand verarbeitet. Cinéasten erinnern sich vermutlich an den Film „Lebewohl meine Konkubine“ (Chen Kaige, 1993), der sich ebenfalls mit den historischen Ereignissen befasst und parallel zum Handlungsrahmen einer Pekingoper den Blick auf die Umbruchszeit im 20. Jahrhundert Chinas richtet.
Yang Liping / Contemporary Dance: „Under Siege“, Tanztheater mit Livemusik, einmalig am 12. November 2017, Festspielhaus St. Pölten.