„Schwanensee“ 234: Gäste aus London
Wenn Gäste in „Schwanensee“ (Choreografie Rudolf Nurejew) tanzen, dann platzt das Stehparterre, im Parkett und auf den Rängen bleibt kein Sitzplatz frei. Das ist gut so, auch wenn Solistinnen und Gruppentänzerinnen (samt -tänzern) den Gefeierten durchaus ebenbürtig sind. Am Pfingstsonntag also, Vadim Muntagirov mit Marianela Nuñez, beide in Wien bereits keine Unbekannten mehr. Gemeinsam mit dem Dirigenten Alexander Ingram, einfühlsam und temporeich, ernteten sie eifrigen Applaus samt Bravorufen.
Marianela Nuñez, Principal Dancer im Royal Ballet, konnte vor einem Jahr mit ihrer Darstellung der Kitri in Nurejews Choreografie von „Don Quixote“ das Publikum (mich eingeschlossen) hellauf begeistern. Als enthusiastisch begrüßter Gast in „Schwanensee“ hat sie mich nicht so begeistert. Meine Erwartung, eine ebenso fulminante Darbietung zu sehen, konnte sie nicht erfüllen. Diese Odette war weder tanzender Schwan noch liebende Prinzessin. Eher gelangweilt und ein wenig missmutig tanzt die Königin der verzauberten Schwäne mit schweren Armen. Der schöne, junge Prinz scheint ihr Powidl zu sein, vielmehr benutzt sie Siegfried, der selbst sofort glüht und ihr die Armbrust samt seinem Herzen zu Füßen legt, als Mittel zum Zweck. Sie muss erlöst werden, durch wen, ist egal.
Wenn sie später an der Hand Rotbarts (wie immer wünsche ich mir für diese Rolle, fulminant und böse gestaltet von Eno Peçi, mehr Raum) in den Saal des Schlosses fegt, scheint Nuñez besserer Laune und wacher zu sein. Lockerer ist sie allerdings erst im letzten Akt. Ach was, scheint Odette zu denken, bin ich eben unerlöst. Nuñez weiß: Das Spiel strebt dem Ende zu. Dass es an der perfekten Technik der Ballerina (38), die einst ein paar Wochen in Wien studiert hat und Nurejews Choreografie möglicherweise auf der Bühne miterlebt hat, nichts zu mäkeln gibt, muss nicht betont werden. Doch scheint sie sich als lebendige Spanierin Kitri wohler zu fühlen denn als todgeweihte Seele eines Federviehs.
Umgekehrt ist der Eindruck von Vadim Muntagirov. War er als Conrad in „Le Corsaire“ (neu choreografiert von Manuel Legris) im Oktober des Vorjahres trotz seiner sicheren Luftsprünge etwas blass erschienen, so ist er als Siegfried der perfekte Prinz: mit natürlicher Eleganz, anmutiger Haltung, energischen Armbewegungen und fließenden Drehungen, als hätte er biegsame Knochen. Um die Technik muss sich der Kollege Nuñez’ als Principal Dancer am Royal Ballet (26, Prix Benois de la Danse 2013) nicht kümmern und kann sich ganz den Gefühlen des vor Liebe blinden Verräters hingeben. Schon im ersten Akt tanzt er sicher und gelöst. Ein Genuss ist der Pas de Cinque mit den Gefährt_innen: Natascha Mair, Greig Matthews, Adele Fiocchi, Dumitru Taran. Ohne Allüren, doch mit Allüre.
Übrigens, Adele Fiocchi, die seit 2014 im Corps de Ballet tanzt, hat den gesamten Abend zu tun. Nach ihrem bereits recht sicheren Auftritt als Gefährtin (mit Taran) ist sie neben Gala Jovanovic, Oxana Kiyanenko und Laura Nistor auch ein „großer Schwan“ und ein Edelfräulein im 3. Akt. Da ist sie die einzige, die ihre Enttäuschung, dass Siegfried sie nicht zur Frau nehmen will, sichtbar macht. Ansonsten scheint das gesamte Corps durch die hochlöblichen Gäste nervös zu sein, oder auch schon etwas müde von der langen Schwanensee-Serie, jede Vorstellung, auch ohne Gäste, vor ausverkauftem Haus. Nicht müde ist Rikako Shibamoto, eine zierliche, Walzertänzerin mit Schwung und Scott McKenzie (Absolvent der Royal Ballet School), ein bereits bewährter, flinkfüssiger „kleiner Schwan“ und eine kecke Neapolitanerin, diesmal im Hintergrund. Im Vordergrund entzückten Natascha Mair und Richard Szabó so wie auch das dynamische Paar, Ioanna Avraam und Masayu Kimoto, als polnische Tänzer_innen. Auch Nikisha Fogo und Géraud Wielick mit Schnurrbärtchen ließen sich als Ungarin / Ungar nicht lumpen, paprizierten mit Charme das Publikum. Damit die Pseudo-Volkstänze vollständig sind: Immer perfekter, mit noch mehr Temperament den Boden bearbeitend, das Quartett aus Andalusien: Rebecca Horner, Erika Kováčová mit Alexis Forabosco und James Stephens. Wie überhaupt diese vier Divertissements diesmal tatsächlich welche waren, nämlich eine Lustbarkeit. So schienen es auch die Tänzer_innen zu empfinden, frei und fröhlich gaben sie sich Tschaikowskis fantasierter Reise hin.
Lange bevor Siegfried so wunderbar elegant und liebevoll, wie ich es zuletzt von Valdimir Malakhov gesehen habe, im letzten Akt die unglücklichen Schwanenfrauen mit einem Armschwung weckt, musste unsichtbar aber effektvoll die Haustechnik samt den Feuerwehrmännern ausrücken. Das Unwetter hatte sich in die Vorstellung gemischt, den Regen in einen Kabelschacht gepresst – Kurzschluss im Orchestergraben. Abgang der Beteiligten mit Dominoeffekt: Zuerst der Dirigent, Alexander Ingram, dann die auf ihre Variation im 2. Akt wartende Oberschwanenfrau, danach erheben sich im Finstern die Musiker_innen, und schließlich beschließen auch die Schwäne: „Wir gehen“ und verlassen im Trippelschritt die Bühne. Überraschende Pause für alle. Gedränge am Buffet. Doch der Schaden ist schnell behoben. Schon stehen die Schwäne wieder aufgereiht in Position, die Schwanenkönigin kommt aus der Gasse, wartet, dass Ingram den Taktstock hebt. Das Publikum applaudiert begeistert. Auch ein Divertissement, außer Programm.
Rudolf Nurejew: „Schwanensee“, nach Marius Petipa und Lew Iwanow, Musik Peter Tschaikowsky. Mit den Gästen vom Royal Ballet, Vadim Muntagirov (Debüt in der Wiener Choreografie) und Marianela Nuñez. 4.6. 2017, Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Die nächsten Prinzen: Leonardo Basilio mit Liudmila Konovalova, 8. 6. 2017; Masayu Kimoto mit Maria Yakovleva, 12.6. 2017.