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Alain Platel/Les Ballets C de la B: "nicht schlafen"

Les Balletts C. De la B."nicht schlafen" © Chris Van der Burght"

Unsicherheit, Nervosität und Angst vor dem Ungewissen – vor dem, was passieren könnte. Gefühle, die in im neuesten Tanzstück von Alain Platel, das vom Tanzquartier Wien ins Volkstheater eingeladen war, die Atmosphäre prägen. Der belgische Choreograf und Regisseur schafft gemeinsam mit Steven Prengels (Komposition), Berlinde De Bruyckere (Bühnenbild) und der neun-köpfigen Compagnie Les Ballets C de la B in „nicht schlafen“ eine Stimmung, die sowohl in der Musik als auch in der Choreografie vorherrscht, diese Elemente verbindet und zugleich ins Hier und Jetzt holt.

Musik spielt in Alain Platels Bühnenwerken eine bedeutende Rolle, wie etwa in „tauberbach“ Kantaten von Johann Sebastian Bach) oder „En avant, marche“(Blasmusik). In „nicht schlafen“ wenden sich er und der Komponist Steven Prengels dem sinfonischen Schaffen Gustav Mahlers zu. Prengels setzt mit Hilfe des Samplings acht von neun Mahler-Sinfonien (ausgenommen der achten Sinfonie) in einen neuen musikalischen Kontext. Die Auszüge werde gespickt mit Sounds, beispielsweise Kuhglocken oder das Wiehern von Pferden; Live-Sounds, wie etwa dem Rascheln von Bomberjacken oder dem Stöhnen und Rufen der Tänzer_innen; oder kurze Sprechphrasen und Live-Gesang, wie zu Beginn der Performance mit „Hör auf zu beben“ aus der Auferstehungssinfonie (2. Sinfonie).

"nicht schlafen" mit Gustav Mahler © Chris Van der BurghtDie Tänzer_innen stehen singend mit Blick nach hinten zum Bühnenbild – eine große Pferdedecke dient als Vorhang links und hinten am Bühnenrand, bereits abgenutzt mit Löchern und Verfärbungen. Davor liegen drei Pferde: zwei auf einem Podest übereinander, ein weiteres liegt dahinter am Boden und ist zusätzlich mit Seilen an der Decke befestigt. Einzelne Protagonist_innen beginnen sich zu bewegen und die besinnliche Stimmung zu durchbrechen. Bis sich schließlich eine Kampfszene entfacht, wobei sich alle gegenseitig die Kleider von den Körpern reißen. Nur noch in Fetzten gehüllt beginnen kurze synchrone Gruppenchoreografien, die immer wieder durch Laufen unterbrochen werden. Auf Momente der Ordnung folgt sogleich ein Augenblick des Chaos. Sowohl die Musik als auch die Choreografie erscheinen als eigenständige Elemente. Keines dient oder unterwirft sich dem anderen. Es gibt kaum gemeinsame Höhepunkte, vielmehr setzt Platel auf Brüche und Kontrapunkte.

Ein Zeitpunkt sticht jedoch besonders hervor, an jenem verschränken sich die Soundscapes und die Choreografie ineinander. Dieser könnte durchaus als Schlüsselmoment im Stück bezeichnet werden. Erneut wenden sich die Performer_innen vom Publikum ab und blicken in Richtung der Pferde. Es erklingt Johann Sebastian Bachs „Den Tod niemand zwingend kunnt“. Worauf kurz danach von zwei Performern – Boule Mpanya und Russell Tshiebua – afrikanische Gesänge angestimmt werden. Es kommt ein Gefühl von Freude und Verbundenheit auf, durch gemeinsames Singen, Musizieren und Tanzen. "nicht schlafen" mit viel Emotion. © Chris Van der Burght

Die Stimmung kippt. Beklemmung macht sich breit. Ein lebloser Körper (David Le Borgne) wird von den anderen Akteur_innen auf der Bühne drapiert und herumgezerrt, wie zuvor bereits das Tote Pferd von den Tänzer_innen an den Seilen gen Decke gezogen wurde. Dies ist leider nur einer der wenigen Momente, wo sich ein Link zum Bühnenbild herstellen lässt. Neben kurzem Galoppieren und Pferdegeräuschen wirkt die Verbindung zwischen Bewegung und der Skulptur hier nicht oberflächlich, sondern beides vermittelt eine ähnliche Stimmung, die sich auf die Zuschauer überträgt, die sich bereits zuvor durch Bachs Kantate angekündigt hatte.

Alain Platerl kann das Publikum fangen © Chris Van der BurghtDoch am Ende bleibt die Erlösung oder vielmehr der Wunsch nach Erlösung. Eine lebendige Tanzszene zu Mahlers Auferstehungssinfonie, die nicht als dramatischer Höhepunkt erscheint sondern als eine Konzentration des Bewegungsvokabulars und der Gefühlsregungen, die aus dem gesamten Stück hervorgehen. Platel bietet hier eine große Bandbreite von Bewegungen – aus der Folklore, dem Ballett, dem Zeitgenössischen Tanz, dem Alltag – und Emotionen – Lust, Begierde, Angst, Obszönität, Freude, Trauer.

Besonders an „nicht schlafen“ ist die Atmosphäre, die entsteht und auf das Publikum übertragen wird. Diese wird sowohl durch das Bewegungsvokabular als auch durch die Musik geschaffen. Gustav Mahler lebte und wirkte vor dem ersten Weltkrieg, in einer Zeit der Ungewissheit, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Stimmungen, die nicht aktueller sein könnten und somit einen Bogen zum Heute spannen – mit Donald Trump, Brexit und IS-Terrorismus. Auch Gesten der Tänzer_innen verdeutlichen dies mit religiöser Symbolik, archaischen Attitüden, Hiltlergruß und Verweise auf moderne Kommunikationstechniken wie dem Handy. Dies geschieht jedoch zum Teil leider sehr plakativ und überzeichnet. "nicht schlafen", vielleicht weil die Welt kopfsteht © Chris Van der Burght

Bemerkenswert ist jedoch Alain Platels Selbstverständlichkeit gegenüber Gleichberechtigung. Nur eine von neun Tänzer_innen ist eine Frau, was in der Choreografie nicht thematisiert wird, weil es keine Rolle spielt. Weil es auch keine Rolle spielen muss. Die Frau wird nicht in patriarchale Rollenbilder gezwängt. Liebe und Hass, Zärtlichkeit und Gewalt erscheinen sowohl zwischen Frau und Mann als auch zwischen zwei Männern. Eine Herangehensweise, von der sich so manch anderer, vor allem männlicher, Choreograf etwas abschauen könnte.

Alain Platel/Les Ballets C de la B; "nicht schlafen“, Tanzquartier Wien in Kooperation mit Volkstheater: