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Sidi Larbi Cherkaoui: “ Fractus V“, St. Pölten

Fünf Tänzer – Eine Einheit © Filip Van Roe

Der Philosoph Noam Chomsky wundert sich. „Warum ist unser Wissen von der Welt so armselig, während wir doch so viel Information erlangen können?“ Auf ihn beruft sich der Tänzer und Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui, der im Festspielhaus St. Pölten mit seiner Company Eastman das erst vor wenigen Monaten uraufgeführte Stück „Fractus V“ gezeigt hat. Fünf Tänzer und fünf Musiker erzählen vom Öffnen des Gehirns, vom Stoppen des ständigen Gedankenstroms und davon, dass es immer wieder Brüche (fractus= gebrochen) geben muss, damit man sich neu orientieren kann.

Grenzen zu überschreiten, aus Denk-Gefängnissen auszubrechen, Kulturen, Tanz- / Musikstile und Traditionen zu durchmischen, ist dem 40jährigen Künstler ein Anliegen. Deshalb ist auch die Company Eastman von außen besehen ganz heterogen. Die Tänzer vertreten jeder ein anderes Genre, vom Lindy Hop bis zum Flamenco; die Musiker – Shogo Yoshii, japanischer Perkussionisten und Sänger, Woojae Park, koreanischer Sänger und Virtuose auf der sechsseitigen Zither, Geomungo, der britisch-indische Sarod-Musiker Soumik Datta und der afrikanische Gitarrist und Sänger Kaspy N’dia. Alle haben sie, wie auch die Tänzer, schon in anderen Produktionen mit Cherkaoui zusammengearbeitet. Cherkaoui mit P: W. Seebacher / Twoface im Clinch alle Fotos. © Filip Van Roe

Keine Überraschung also, dass trotz aller Unterschiede und Brüche in der Choreografie die 10 Männer zu einem einzigen Klang- und Bewegungskörper zusammenwachsen und die Performance in voller Harmonie und Schönheit endet. Große Kunst kann auch durch die Kunst der Vermischung entstehen.

Fabian  Thome Duten, südfranzösischer Tänzer, ausgebildet in Spanien. Der Choreograf arbeitet mit dem Wissen, dass Denken nicht nur eine Angelegenheit des Gehirns ist, so wie alle Körperzellen ein Gedächtnis haben können sie auch denken. Dieses Denken mit den Füßen und Beinen, den Händen und Armen zeigt das Quintett immer wieder durch Verschränkung und Überlagerung, Verbindungen und engen Körperkontakt. Es entstehen eindrucksvolle Bilder, beweglichen Skulpturen gleich, deren formvollendete Anmut die harten Szenen der Gewalt fast vergessen lassen. Diesen sich steigernden Gewaltakten, als Wettbewerb im Foltern und Toten dargestellt, kann das Publikum auch nicht entkommt, wenn die Augen geschlossen werden, die Ohren sind nicht so leicht zu verschließen – schauen Sie hin, auch das ist die Welt, lautet in diesem erschreckenden Teil die Botschaft. Und schon klicken die Kameras, gieren die Mediengeier nach neuem Futter.

Doch letztlich glaubt der Tänzer und Choreograf an das Gute und Schöne im Menschen und auf der Welt, und hofft es mit seiner Kunst und der seiner großartigen Teamkollegen sichtbar zu machen. Denkende, sprechende Arme und Hände. Johnny Lloay, S. L. Cherkaoui, Dimitrie Jourde

Ein erlesener, unvergesslicher Abend, an dem die dargestellte Aggression und Grausamkeit Würde und Einklang, Feinheit und Ebenmaß umso deutlicher sichtbar machen. Woran der mittanzende Choreograf, der in Wien oder St. Pölten schon lange nicht auf der Bühne zu sehen gewesen ist, wesentlichen Anteil hat. Seinen geschmeidigen Bewegungen, den aufblitzenden Funken von Humor, seiner Authentizität und geistigen Offenheit verzeihe ich auch die Anwandlungen von Pathos und Missionierungseifer.
Wie erwartet ist die mögliche Ergriffenheit der Zuschauer_innen sehr schnell tosendem Applaus gewichen. Jammerschade, dass dieser Glanzpunkt der Tanzsaison 2016/17 nur an zwei Abenden zu sehen war.

Sidi Larbi Cherkaoui / Eastman: „Fractus V“, mit –Dimitri Jourde, Zirkusartist; Johnny Lloyd, Tänzer, zeitgenössisch; Fabian Thome Duten, Tänzer, ausgebildet am Conservatorio de Danza in Madrid und bei Flamenco-Meistern; Patrick Williams Seebacher / Twoface, urban dance, Lindy Hop sowie Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui selbst. 20., 21. Jänner 2017, Festspielhaus St. Pölten.
Am 25. Februar steht "Babel (words)" von Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet auf dem Spielpan des Festspielhauses St. Pölten. Das Stück mit Live Musik und einem großen Ensemble hat schon 2010 das  Festspielhaus-Publikum begeistert.