Raymonda – das Juwel, matt, farblos, verzichtbar
Schwierig, anstrengend, eine Herausforderung “, das war der Tenor als Tänzerinnen und Tänzer nach der Generalprobe zum Ballet „Raymonda“, von Rudolf Nurejew nach Marius Petipa choreografiert, befragt wurden. Manuel Legris hat es mit dem Ensemble neu einstudiert und achtet streng darauf, das im Sinne des Choreografen auch nicht der kleinste Schnörkel ausgelassen wird. Die Technik sitzt, die im Internet angekündigte Dramatik fehlt. Hätte sich Nurejew doch an Tante Jolesch gehalten! Doch die kann er als Russe nicht kennen.
Nurejew tut immer zu viel des Guten, noch ein Fouetté, noch ein Hupfer, noch ein Winken. Un d noch zwei Divertissements und dann noch eines. Für das Corps ebenso anstrengend wie für die Solist_innen. Es fehlt an Ruhe und Klarheit. Und – vor kräfteraubender Anstrengung und Konzentration, nehme ich an – auch an Rollengestaltung. Blass und glanzlos zeigt sich dieses Ballett, die letzte Kreation Petipas sowie auch Nurejews und auch die letzte im 19. Jahrhundert in St. Petersburg uraufgeführte Choreografie aus der Ballett-Glanzzeit im zaristischen Russland.
Die Erfahrung lehrt, dass die Premiere (diesmal der Wiedereinstudierung 17 Jahre nach der letzten Vorstellung 1999) nicht die beste Aufführung ist und Tänzerinnen und Tänzer von Mal zu Mal besser werden, eine kompaktere Performance zeigen und mitunter auch ihre Rollen besser verstehen. Bei dieser Raymonda trifft das nicht zu. Das Funkeln dieses gemeinhin „Juwel“ genannten, an Schwierigkeiten reichen Balletts, verblasst mit jeder Vorstellung mehr. Drei Stunde auf der Bühne zu agieren (alle Solorollen bis auf den Sarazenenfürsten Abderachman, wie ein Großteil des Corps), das zehrt. Außerdem fordern Nurejews wiederholte und recht überflüssige Komplikationen und Sperenzchen die volle Konzentration der Tänzer_innen, um die Figuren zum Leben erwecken, bleibt wenig Raum.
Die Erinnerung an die letzte Aufführungsserie (1997 bis Juni 1999, Direktion: Renato Zanella) ist nicht mehr sehr lebhaft. Doch der wilde, sinnliche Abderachman, den Christian Rovny gestaltet hat und der edle Ritter Jean de Brienne, den der einnehmende und körperlich so präsente Tamás Solymosi (mein Lieblingsromeo, immer noch) getanzt hat, bleiben immer im Gedächtnis. Damals konnte sich Raymonda nur sehr schwer zwischen Hirn und Herz entscheiden.
Der endlos scheinenden Abfolge von Pas de deux, frappierenden Solovariationen und Charaktertänzen konnte auch Denys Cherevychko, auf den ich all meine Hoffnungen gesetzt habe (nach dem eleganten und durch die Jugend imponierendenJakob Feyferlik und Robert Gabdullin), keinen frischen Wind einblasen. Wobei ich den Ersten Soltänzer viel lieber als Abderachman gesehen hätte. Er ist für mich eher der wilde Frauenräuber als der brave Ritter mit reiner Seele. Im Mittelalter war ja die Welt noch reicht einfach: Hier der tugendsame (christliche) Ritter, ganz in Weiß, dort der böse (heidnische) Fürst, der auf dem Rappen daherkommt. Nirgends aber steht, dass Jean, der Bräutigam, langweilig sein muss und der sinnenfreudige Abderachman ein ganz netter Kerl und sogar etwas behäbig – auch Davide Dato und Vladimir Shishov umtanzten als Abderachman die spröde Raymonda.
Auch wenn die Handlung mager oder gar unwichtig ist, es gibt sie und die Rollen sind verteilt, es gibt Namen und sogar Herkunftsbezeichnungen, also will man sie auch erkennen. Wenn Petipa es wirklich intendiert hätte, eine Gala-Aufführung zu choreografieren, dann hätte er wohl die Tänzer_innen einfach nummeriert.
An der Musik kann es nicht liegen, dass sich der Zuschauerraum und vor allem der Stehplatz nach jeder Pause mehr leert (in diesem Fall: ein Glück, dass es nur zwei gibt) und am Ende sich nur die Fangruppen hervortun, um ihre Favorit_innen zu bejubeln. Den heftigsten und ehrlichsten Applaus aber erhält (schon nach jeder Pause) der Dirigent Kevin Rhodes, der seinen Glasunow im kleinen Finger hat und das Staatsopernorchester zum Blühen und Glühen bringt. In der Musik ist auch alles drinnen: Kriegsgetöse und Gefühlsaufwallungen, Furcht und Schrecken, Liebe und Abscheu, Glück und Glas, Romantik und Sturm. Auf der Bühne? Nichts davon. Arabesques und Entrechats, Hebungen, Drehungen, Jetés und Manegen und endlich, endlich Apotheose.
Technik allein genügt nicht. Auch nicht in einem Ballett ohne Handlung, einer plotlosen Choreografie. Wenn die Tänzer_innen nur noch gut geölte Maschinen sind, für die das Wichtigste ist, dass sie durchhalten (sie können es ja nicht den Zuschauerinnen gleichtun und sich auf französisch verabschieden), dann wird das Ballett zur Zirkusvorstellung.
Bravo, Bravissimo, wieder ein Wurf gelungen, ein Sprung sauber aufgesetzt!
Wenn die beiden hölzernen Pferde auf die Bühne rollen (verkleinert auch im russischen 19. Jahrhundert im Kinderzimmer von Buben geritten), dann scheint mir, dass in diesem Ballett auch allerlei Ironie und Witz verborgen sind. Nicht nur die übermütigen Freundinnen samt ihren Troubadouren dürfen Schabernack treiben, komisch ist doch auch, wie schnell Raymondas Tante, eine Witwe, die auch ihre Hofdamen zur Trauer verpflichtet, ihren Schleier abwirft. Krieg hin, Kampf her. Schon sitzt ein neuer Feschak an ihrer Seite, der König von Ungarn. Ganz ernst kann es auch nicht gemeint sein, wenn das Sarazenenheer als Bettlerschar verkleidet unter dem Vorhang ins Zelt kriecht. In Wahrheit ist mehr Leben in dieser Choreografie als ich sehen kann.
Versöhnung. Eine gute Wahl hat Ballettdirektor Manuel Legris, der auch die Neueinstudierung (für sämtliche Auftretende ein Debüt) geleitet hat, bei der Auswahl der Freundinnen Raymondas und der beiden Troubadoure getroffen. In pikanter Zusammensetzung tanzen Natascha Mair und Tina Tonoli mit Masayu Kimoto und Richard Szabó sowie Ioanna Avraam und Alice Firenze mit Greig Matthews und James Stephens. Beide Quartette sind lebendig und mit Engagement dabei. Vor allem die Damen zeigen auch ihre Freude am Tanz und so pumpen diese acht Tänzer_innen, die ebenfalls in allen drei Akten auf der Bühne präsent sind, etwas Blut in die schlaffen Venen der Vorstellungen.
Dem Tanz und auch dem sehr wohl glänzenden Wiener Staatsballett wird mit der Hebung dieses Schatzes von gestern kein Dienst erwiesen. Doch, was soll’s, Die Flucht des Publikums scheint in keiner Statistik auf.
„Raymonda“ Choreografie von Rudolf Nurejew nach Marius Petipa. Dirigent: Kevin Rhodes. Raymonda: Nina Poláková, Liudmilla Konovalova, Maria Yakovleva (8.1. 2017); Jean de Brienne: Jakob Feyferlik, Robert Gabdullin, Denys Cherevychko; Abderachman: Davide Dato, Vladimir Shishov, Michael Sosnovschi (am 3.1. 2017, meine letzte Hoffnung); die Freundinnen Raymondas: Natascha Mair, Nina Tonoli / Ionna Avraam, Alice Firenze; die Troubadoure: Masayu Kimoto, Richard Szabó / Greig Matthews, James Stephens.
Premiere der Neueinstudierung: 22.12. 2016.; Letzte Vorstellung am 8. Jänner 2017.