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„West Side Story“, Choreografie: Jerome Robbins

Die fröhlichen Mädchen der Sharks © Nilz Boehme

Auch fast 60 Jahre nach der Uraufführung im Winter Garden New York City ist die „West Side Story“ noch so frisch und unverbraucht wie damals. Mit der Originalchoreografie von Jerome Robbins (neu einstudiert von Joey McKneely) und einem praktikablen Bühnenbild von Paul Gallis macht die Produktion auf der Europatournee 2016/17 auch in Wien Station. Dirigent ist der Musical-Spezialist Donald Chan. Nach der Premiere am 14. Dezember 2016 wurden die Künstler_innen mit begeistertem Jubel belohnt.

Man darf den gestrengen Erbenverwaltern, dem Jerome Robbins Trust, ruhig vertrauen. Lizenzen für die Choreografien des ehemaligen Tänzers (1918–1998) werden nicht leichtfertig erteilt und wenn auf einer Produktion „“Entire Original Production Directed and Choreographed by Jerome Robbins“ steht, dann ist das perfekt ausgeführte Original auch drinnen.

Dementsprechend genau wurde das Teams der Jets (die weißen Amerikaner samt ihren Bräuten) und Sharks (die eingewanderten Puerto-Ricaner mit ihren Mädchen) ausgewählt, dementsprechend perfekt ist das Orchester – Percussiongruppe und Streicherensemble – bei der Umsetzung von Leonard Bernstein unnachahmlicher Musik aus jazzigen und lateinamerikanischen Rhythmen, mit denen die beiden Kontrahenten charakterisiert sind. So schnell kann Donald Chan seine 21 Musiker gar nicht antreiben, dass die durchwegs jungen Tänzerinnen und Tänzer nicht mitkommen. Es ist ein rasantes, aggressives Spiel, dass durch die lyrischen Passagen (Songtexte: Stephen Sondheim) und auch Witz und Ironie des Librettos (Arthur Laurents) durchbrochen wird. somewhere there's a place for us – ein schöner Traum © Nilz Boehme

Bernstein, Robbins und Sondheim hatten die Absicht, die alte Geschichte (genau besehen ist sie viel älter als das Drama William Shakespeares) von Romeo und Julia auf moderne Weise neu zu erzählen. Der Kampf der beiden Gangs, von denen sich die einen, die Jets, als die berechtigten Einwohner und Herren der Straße fühlen, die anderen, die Sharks, jedoch in Amerika ihr Glück und die Freiheit suchen, spielt in den 50er Jahren und geht doch auch heute unter die Haut. Denken nicht viele Europäer_innen Europa, das Land, die Stadt gehöre ihnen und Fremde hätten in ihr nichts verloren!

Maria, Maria, Maria … © Johan PerssonUnd doch verlieben sich zwei, die nicht beieinander sein dürfen: Maria, die Julia aus Puerto-Rico und Tony-Romeo, der Amerikaner in New York City, der dem Teenagerleben aggressiver, wichtigtuerischer Nichtsnutze bereits entwachsen ist. Schon scheint es einen Konsens zwischen Sesshaften und Immigranten zu geben, da eskaliert der Streit aus einer Nichtigkeit heraus, Blut fließt, Tote sind zu beklagen. Den von Tony und Maria ersehnten „Platz irgendwo“, auf dem Frieden und Freiheit herrscht, gibt es nirgendwo. Zum Weinen schön,  dieser Hit, bei dem Sharks und Jets engelsgleich über die Bühne schweben.

Wien hat übrigens einen besonderen Bezug zur „West Side Story“: Schon elf Jahre nach der Amerika-Premiere 1957 punktete die Volksoper mit der ersten deutschsprachigen Version des Musicals, dessen Lieder immer noch Kassenhauer (auf der Gasse singt doch heute niemand mehr, da werden Burger gemampft) sind. Produzent Marcel Prawy hat ein weitgehend amerikanisches Ensemble zusammengestellt, bei dem die Jets perfektes Deutsch sprechen mussten, die Sharks jedoch ganz realistisch einen Akzent haben durften. Den Text hatte Prawy selbst übersetzt. 2001 hat der damalige, aus künstlerisch nicht argumentierbaren Gründen wenig geliebte Direktor der Volksoper, Dominique Mentha, die „West Side Story“ von Philippe Arlaud neu inszenieren lassen. Choreograf Jerome Robbins © LGBTHistory Month
Arlaud hat Prawys Textfassung mit kleinen Retuschen beibehalten, ließ jedoch die Lieder im auf Englisch singen. Die Inszenierung ist bis 2004 im Repertoire geblieben.

Die Aktualität, die schon vor mehr als zehn Jahren das Publikum wenigstens für einen kurzen Augenblick hat nachdenken liassen, ist heute noch klarer, ohne dass irgendein Hammer geschwungen werden muss.

In der gezeigten Produktion wird eine aktuelle, berührende Geschichte gezeigt, erzählt mit rasantem, kraftvollem Tanz, perfekter Akrobatik (die entscheidende Kampfszene, ganz im vorgegebenen Rhythmus, ist bei aller Grausamkeit auch ein Genuss) und herrlich akzentuierter Spielfreude. Es gibt weder an den Sänger_innen, noch an den karikierend gezeichneten Sprechrollen, oder der Regie, die auch auf die spannungsfördernden Atempausen Wert legt, nur das Geringste auszusetzen.
Jeder Sprung passt, jeder Ton sitzt, jedes Wort trift, jede Bewegung fließt.

Tanzen ist Fliegen © Johan PerssonDie Live Musik und die Übersetzung auf elektronischem Laufband der gereimten und oft im Rhythmus gebellten, gebrüllten, gespuckten Texte und das Live-Orchester tragen wesentlich zum Erfolg der Produktion bei. Die üblichen Wackelkulissen und sonstigen kleinen Schlampereien von Tourneeproduktionen sind nicht auszunehmen. Da sei der Jerome Robbins Trust vor! Das Programmheft ist voll der Lobeshymnen aus allen Kontinenten, von Sidney bis Basel, von Bangkok bis London, von Peking bis Tel Aviv, von Tokio bis Madrid,. . Auf diese Liste der Jubelmeldungen darf nun auch Wien gesetzt werden.

The Original Broadway Classic: „West Side Story“, basierend auf einem Konzept von Jerome Robbins. Musik: Leonard Bernstein, Libretto. Arthur Laurents, Liedtexte: Stephen Sondheim. Gesamte Original Produktion, choreografiert und inszeniert von Jerome Robbins; Leitung der Einstudierung: Joey McKneely. Gesehen am 14.12. 2016, Stadthalle Wien.
Weitere Vorstellungen: 16.–18. Dezember 2016., 17. und 18. 12. auch nachmittags.