Wiener Staatsballett: Balanchine / Liang / Proietto
Der Vorhang geht auf und ich wähne mich im Mariinski Theater: Klassik pur, Spitzentanz in weißen Tütüs. Der Erste Teil des dreiteiligen Abends mit der Premiere von Edwaard Liangs viel getanzter Choreografie „Murmuration“ und der Uraufführung des neuen Balletts von Daniel Proietto, „Blanc“, zeigte das Beste gleich zu Beginn: George Balanchines Ballett „Sinfonie in C“ zu Georges Bizets Sinfonie in C-Dur. So schön, ja erlesen und fein habe ich Balanchine noch nie an der Staatsoper gesehen. Wieder ein Beweis für die exzellente Arbeit von Ballettdirektor Manuel Legris.
Balanchines Choreografie ist eine Huldigung an den klassischen russischen Stil, ganz der ins Ohr gehenden Musik Bizets, die der Komponist der „Carmen“ mit 17 Jahren niedergeschrieben hat, ergeben. Entsprechend den vier Sätzen einer Symphonie gibt Balanchine den vier Solopaaren unterschiedliches Temperament und Feuer. Jakob Feyferlik, längst ein Star des Wiener Staatsballetts und mit Rasanz den Status eines Danseur noble erreichend, begeistert elegant und stilsicher mit der jungen Solotänzerin Natascha Mair im 1. Satz. Herz und Höhepunkt der Choreografie ist der 2. Satz (Andante Adagio) in dem Liudmila Konovalova mit Delikatesse und ihrer unnachahmlichen Standfestigkeit auf der Spitze glänzt. Partner Vladimir Shishov hebt und hält sie sicher und warm. Konovalova wollte es sich trotz einer Verletzung nicht nehmen lassen, das Premierenpublikum mit ihrer blitzenden Virtuosität zu beglücken. Am zweiten Abend der in dieser Saison fünfmal mal getanzten Serie, hat Nina Poláková den Part übernommen und wieder einmal gezeigt, dass sie eine feine, stilsichere klassische Tänzerin ist. Und nicht nur das, doch davon später.
Nina Tonoli und Denys Cherevychko sind das geeignete Paar für den lebhaften 3. Satz (Allegro vivace): Tonoli eine Adagio-Tänzerin, die auch durch ihre Lebendigkeit entzückt; Cherevychko harmonisch mit seiner Partnerin, mitreißend durch seine fröhliche Energie. Auch Alice Firenze und Robert Gabdullin, die vor dem großen Finale ihren Auftritt haben, können durch Genauigkeit und Dynamik begeistern.
Ehre wem Ehre gebührt: Dem gesamten Corps de Ballett samt den Solopaaren – Laura Nistor mit James Stephens / Adele Fiocchi mit Leonardo Basilio (1. Satz), Gala Jovanovic mit Alexandru Tcacenco / Rebecca Horner mit Zsolt Török (2. Satz), Sveva Gargiulo mit Richard Szabó / Anita Manolova mit Géraud Wielick (3 Satz) und schließlich und keineswegs zuletzt die bezaubernde Rikako Shibamoto mit Marcin Dempc / Eszter Ledán mit Trevor Hayden. Ein Spitzengenuss in Weiß und samtigem Schwarz (die Herren).
Ich könnte immer weiter schwärmen, wären da nicht noch zwei für Wien und sogar für die Welt neue Ballette zu würdigen. Das eine, Edwaard Liangs „Murmuration“ entstand aus der Begeisterung für die Musik, das Violinkonzert Nr. 1 „Esoconcerto“ von Ezio Bosso mit der fabelhaften Konzertmeistern Albena Danailova als Solistin. Choreograf Liang setzt zu dieser, die Bewegungen der Tänzer_innen und den Herzschlag des Publikums antreibenden Minimalmusic, den Vogelflug in Tanz um. „Murmuration“ ist der rätselhafte Formationsflug der Stare, die sich sammeln, auffliegen, Muster bilden, durcheinander wirbelnd und in rasendem Sturzflug niemals zusammenstoßen. Genau dieses alles lässt Liang die Tänzer_innen tun. Sie zeichnen Linien und Muster, sammeln sich und fliegen wieder auseinander, Paare bilden sich, werden auseinander gerissen, die Hackordnung wird sichtbar, ruhige Passagen unterbrechen die rasend schnellen Flüge und bieten den Augen der Zuschauerinnen Erholung.
Roman Lazik zeigt mit Nina Poláková (wir erinnern uns, die Erste Solotänzerin war zwanzig Minuten zuvor eine brillant-klassische Ballerina, jetzt hat sie einen anderen Körper mit anderen Bewegung, ist mit ihrem Partner in voller Harmonie eine zeitgenössische Tänzerin) einen ruhigen Pas de deux (nachdem Jakob Feyferlik, auch er ein anderer als im Balanchine-Solo, ihm die Tänzerin in die Arme geworfen hat) und danach ein eindrucksvolles Solo.
Bewundernswert auch die anderen Vögel, in die sich die Tänzer_innen aus „Sinfonie in C“ verwandelt haben. Dieser Wechsel von einem zu anderen zweier grundverschiedenen Bewegungsstile innerhalb kurzer Zeit, zeigt, wie schon so oft, die Flexibilität und kaum je versiegende Energie des Wiener Staatsballetts.
Das andere: „Blanc“ von Daniel Proietto, ein Auftragswerk für Wien, eine Uraufführung also. Proietto nennt sich selbst einen Romantiker und schwärmt für schwebende Sylphiden. An Michele Fokines zur Musik von Frédéric Chopin für les Balletts Russes choreografiertes Ballett „Les Sylphides“ (auch „Chopiniana“ genannt) erinnert er auch mit „Blanc“. Bei der Nurejew-Gala 2016 hat Proietto mit seiner Kreation „Cygne“ begeistert, dementsprechend hoch waren die Erwartungen an die neue Choreografie. Neben der einleitenden Musik von Chopin (am Klavier Maria Radutu) verwendet Proietto eine parallel zur Choreografie vom schwedischen Komponisten Mikael Karlsson erdachte Musik (daher ebenfalls eine Uraufführung).
Der Titel „Blanc“ bezieht sich nicht nur auf das romantische weiße Ballett sondern auch auf das leere Blatt, vor dem ein an sich selbst zweifelnder Dichter steht. Dieser Dichter darf auf Proiettos Wunsch zu vielen Worten kommen und vom eigentlichen Kern einer Choreografie, dem Tanz, penetrant ablenken. Der Sprecher, Schauspieler Laurence Rupp, hält sich kaum an die Musik, hat sich zwar in der Reprise des Abends etwas gefangen, begriffen, dass es Pausen gibt und er nicht durch den Text rasen muss, der dadurch jegliche möglicherweise vorhandene Poesie verliert, lenkt jedoch den immer noch Blick vom Tanz ab. Schwebend in blassrosa angehauchten wadenlangen Tütüs sind hingegen die ungezählten Sylphiden, die in des Dichters Traum erscheinen und durch einen in goldenes Licht getauchten Wald geistern. Ketevan Papava ist „die Frau“ und eine hinreißende, aparte Sylphide, die den Dichter die nötige Inspiration schenken soll. Mir scheint, er kann damit nichts anfangen, verkehrt die Traumbilder in düstere Negative. Ein großartiger, wilder Pas de trois von Natascha Mair, Davide Dato und Masayu Kimoto (alle drei unkenntlich geschwärzt) ist der klare und einprägsame Höhepunkt des Balletts.
Eno Peçi, der den Schatten des Poeten tanzt, wird unter seinem überragenden Wert geschlagen, viel zu oft verdeckt ihn der umherirrende, vor sich hin klagende Dichter, lässt zugunsten der Wortflut die Körpersprache in den Hintergrund fallen. „Führende Sylphiden“ und „Schatten“ sind auch Ioanna Avraam, Nina Tonoli und Eszter Ledán. Sie alle verschwinden am Ende ins Nirwana. Nach klassischer Brillanz und Vogelflug, romantische Melancholie. „Schön und fad“ sagt die junge Frau neben mir.
Das Staatsopernorchester samt den gar nicht faden Solistinnen Maria Radutu am Flüge und Albena Danailova mit der Violine erntete unter dem Dirigenten Fayçal Karoui ebenso enthusiastischen Applaus wie das Corps de ballet und die Solist_innen. Und das nicht nur bei der Premiere sondern auch in der 2. Vorstellung.
Wiener Staatsballett: „Balanchine | Liang | Proietto“, Symphonie in C | Murmuration | Blanc (Uraufführung),
Premiere am 1. November 2016; Reprise am 2. November 2016, Staatsoper.
Weitere Aufführungen: 4., 5., 18. November 2016.