Tino Sehgal/ Musée de la Danse – Tanzquartier
Drei splitternackte Tänzer treten nacheinander in unterschiedlichen Räumen als lebendige Archive der Choreografie auf. Vor 15 Jahren hat der damals junge Konzeptkünstler Tino Sehgal sein Stück „Ohne Titel“ bei der Tanzplattform Deutschland vorgestellt. Bei der Wiederaufnahme im Tanzquartier lässt er Andrew Hardwidge, Frank Willens und Boris Charmatz die Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts bewegt in Erinnerung rufen.
Mit 24 Jahren hat der in London geborene Tino Sehgal gewusst, was er will: Kunst machen, die ephemer ist, von der nichts bleibt, als die Erinnerung. Deshalb gab es schon damals, als er splitternackt im Zeitraffer durch die Choreografiegeschichte tanzend, nicht nur das Publikum schockierte, weder Fotos noch Videos, weder Vorberichte noch Programmzettel. Das Publikum soll überrascht werden, der „inszenierte Flüchtigkeit“ bewohnen. Mehr nicht. Dass der Tanz nicht sein Medium ist, hat Sehgal schnell erkannt und in die bildende Kunst gewechselt. Die Vorschriften sind geblieben: Seine Kunst soll immateriell bleiben, ist für den Moment gemacht, in dem die Zuschauer die Augen öffnen.
Heute ist Sehgal noch konsequenter in seiner Strategie: Auch über den Verkauf seiner Werke gibt es keine Dokumente, Verträge werden mündlich ausgehandelt. So musste man sich schon der Internet-Suchmaschinen bedienen, um eine Ahnung zu bekommen, was einen ab 18 Uhr im Tanzquartier erwartete. Schließlich war die Wiederaufnahme der als „Musée de la Danse“ im Gedächtnis gebliebenen Performance „(Ohne Titel) (2000)“ bereits im Vorjahr im Rahmen der Sommerszene Salzburg und auch bei der Ruhrtriennale 2014 zu sehen. Also: Drei Schauplätze, einer davon im Freien, drei Tänzer, drei Variationen des Stückes mit dem Titel „Zwanzig Minuten für das 20. Jahrhundert heißt“ (mit dieser Ansage beginnt jeder der Tänzer die Performance, die sich nicht an die Zeitvorgabe hält). Alle drei agieren, ohne Kostüm, ohne Musik in leeren Räumen. Andrew Hardwidge im Studio des Tanzquartier (unangenehm eng, bedrängend, viel zu nah der nackte Körper), Frank Willems auf dem sumpfigen Stück vor der U-Bahn Station Museumsquartier (eisig kalt, von Punks lautstark kommentiert, schwierig für den Tänzer, vor allem wenn sich sein Körper an „Walking on the Wall“ von Trisha Brown erinnern soll), Boris Charmatz in der Halle G / Tanzquartier.
Mit ihm, mit dem Tänzer und Choreografen, der das von ihm geleitete nationale Tanzzentrum in Rennes (Centre Chorégraphique national de Rennes et de Bretagne“ in „Musée de la danse“ oder „Dancing Museum“ umbenannt hat und für seine Performance „50 ans de danse“ Posen von Merce Cunningham montiert hat, mit diesem Körper und seinen Bewegungen, auch dem augenzwinkernden Humor des Tänzers und auch der Geduld mit der er seinen Penis bearbeitet um endlich bei Jerôme Bel zu landen und den Springbrunnen plätschern zu lassen, entschlüsselt sich endlich, was Sehgal uns zeigen möchte.
Natürlich liefert auch Charmatz, trotz mancher hingeworfener Sätze und auch unverständlichen Gemurmels, keine Erklärungen zu den aneinander gereihten Zitaten aus der Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts von Isadora Duncan über Waslaw Nijinksij, den Ausdruckstanz der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts über den Bewegungskatalog der Postmoderne bis der Durchlauf eben bei Jérôme Bel und seiner Pinkelkunst endet. Ein köstliches Zitat, leicht zu erkennen. Ohne das Bewegungsarchiv der Tanzgeschichte im Kopf zu haben, wie es nur der Elite der Tanzhistorikerinnen und tanzaffinen Kennern gegeben ist, tut man sich allerdings schwer, die einzelnen Sequenzen zu benennen. Das stört vielleicht bei den Performances von Hardwidge und Willens, wenn Charmatz in ungekünstelter Nacktheit die Bühne betritt, sind die Fragen nach „wer, was, wann“ obsolet geworden. Man genießt eine wunderbare Performance, hat manches Aha-Erlebnis und erinnert sich an Zeiten, als nackte Männer mit baumelndem Penis noch für Aufregung sorgten. Der Rest ist Charmatz.
Tino Sehgal / Musée de la Danse (Ohne Titel) (2000) – Ein Solo, drei Variationen, 13. März 2015, Tanzquartier. Die Vorstellung wurde am 14. März wiederholt.