Ohne Glanz und Gloria: Dornröschen entzaubert
Keine Überraschung, keine Magie, viel Langeweile und einige schöne Momente. Martin Schläpfer hat die Notwendigkeit verspürt, mit dem Wiener Staatsballett ein neues „Dornröschen“ zur bekannten Musik von Peter I. Tschaikowsky einzustudieren. Die Buh-Rufe am Ende der dahinplätschernden Premiere am Montag waren unnötig, es gibt keinen Grund zur Aufregung, wie es halt auch keinen Grund gibt, diesen Mischmasch aus ungenau zitierten Pas de deux anderer Choreografen und den schon bekannten Schläpferschen Schrittfolgen aufzuführen. Dornröschen ist entzaubert.
„Dornröschen“, ein Märchen mit hohem Identifikationsgrad für Mädchen und Buben, ein Ballett mit schwebenden Feen und einer Ohren, Herz und Hirn umgarnenden Musik, die sich mit der Choreografie von Marius Petipa in wunderbarer Symbiose vereint. Man darf also, wenn im Programm der Wiener Staatsoper „Dornröschen“ angesagt ist, entweder ein Kinderstück erwarten oder ein klassisches Ballett. In Martin Schläpfers Choreografie dieses in jeder großen Compagnie vertretenen „Höhepunkts des klassischen Balletts“ (Rudolf Nurejew) bekommt man weder das eine, ein Märchen, noch das andere, ein klassisches Ballett. Auch nicht, wenn auf dem Programmzettel „nach Iwan Alexandrowitsch Wsewoloschski & Marius Petipa“ vermerkt ist. Bei Licht besehen ist der Programmpunkt „Dornröschen“ (bis 29. Dezember noch 12-mal in der Wiener Staatsoper zu sehen) ein Betrug, es ist nicht drin, was draufsteht.
Schläpfer vermerkt überdies auf dem Programmzettel, dass das „Libretto nach dem Märchen „La Belle au bois dormant“ von Charles Perrault“ (1628–1703, die Märchensammlungen der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm sind erst 100 Jahre später, um 1815, erschienen) gebastelt worden ist. Was diese frühe Fassung von der „Schönen im schlafenden Wald“ von der Grimmschen Ausgabe grundlegend unterscheidet, ist die Fortsetzung, die einer griechischen Sage an Grausamkeit in nichts nachsteht. Perrault erzählt auch, was nach der Hochzeit passiert, als Dornröschen mit der Schwiegermutter in einem Haushalt leben muss. Die ist eine menschenfressende Hexe und macht auch vor ihren Enkeln nicht halt. Als Weihnachtsstück für die ganze Familie ist dieser 2. Teil wenig geeignet und auch Tschaikowsky und der Librettist Wsewoloschski haben darauf verzichtet. Im Ballett liegt der Unterschied zu Grimm in der Hand der Fee Carabosse. Sie ist bei Grimm die 13., bei Perrault die 6., die lediglich aus Versehen nicht eingeladen worden ist. Hausmeister Catalabutte hat gedacht, dass die alte Fee Carabosse bereits verstorben sei. Sie drückt dem Geburtstagskind das tödliche Geschenk in die Hand. Choreograf Schläpfer zeigt gemeinsam mit dem Bühnenbildner Florian Etti ein Sparprogramm. Die Bühne ist leer, schlecht ausgeleuchtet und begrenzt von einer Projektion, die rote Rosen zeigt, wie man sie auf billigen Geburtstagskarten sieht. Manchmal werden die Rosenblätter blau. Einige wenige Sessel an den Seitenrändern ergänzen das Bild eines sparsamen Haushalts. Schläpfer braucht die leere Bühne, um sie mit einer möglichst großen Menge, am liebsten mit dem gesamten Ensemble + Zusatztänzer:innen, zu füllen. Statt klarer Handlung, scharf gezeichneter Figuren und eines einheitlichen Ensembles ist die übliche zusammengewürfelte Gruppe von Tänzerinnen unterschiedlichen Niveaus zu sehen. Mitunter tun die Trainingsrückstände und Schlampereien schon beim Zuschauen weh.
Wenig glänzend sind auch die Feste in Szene gesetzt. Dreimal wird das Dornröschen prunkvoll gefeiert; Taufe, Geburtstag, Hochzeit, Königs lassen es sicher an nichts fehlen, sind sie doch die Eltern. So sollte es sein, so steht es im Libretto. Doch die Gäste, in fahles Silber gekleidet, zeigen keine Festesfreude, die Pagen und auch Prinzen wirken eher lächerlich in ihren bunten Pumphosen. Die Feen finden keine Babysitter und müssen ihre Kinder mitbringen, vor lauter Hausarbeit scheinen sie vergessen zu haben, dass sie nahezu himmlische Wesen sind, die schwebend mit ihren Spitzenschuhen kaum den Bode berühren. Scheinbar mag Schläpfer keine zarten Feen, lässt sie deshalb im Stechschritt einmarschieren und lautstark den Boden malträtieren, sodass die Königin Angst um das schöne Parkett haben muss. Alle anderen Kritikpunkte spare ich mir, als letzten erlaube ich mir noch einen Einspruch: Wenn die Musik im 1. Akt die herannahende Carabosse (leider ohne Wagen und mit nur zwei Begleitern) ankündigt, muss Haus- und Zeremonienmeister Catalabutte (Jackson Carroll) als Rumpelstilzchen herumhüpfen und sich auf den Boden werfen. So lenkt er vom eigentlichen Geschehen, dem spektakulären Ankunft der Fee Carabosse, ab. Angst und der Schrecken werden nicht zugelassen, der Effekt verpufft, Carabosse (Claudine Schoch) kommt einfach ohne Aufsehen. Von Magie ist leichter zu reden, als sie herzustellen. Schoch ist weniger eine schwörende, fluchende Fee als ein mit aggressiven Gesten keifendes Fischweib. Jetzt aber wirklich Schluss, diese Choreografie ist der langen Reden nicht wert.
Wert ist es allerdings, die Leistungen der Tänzerinnen und Tänzer zu erwähnen. Bei den Feen fällt Fiona McGee auf, die bemüht ist, einen Hauch von Feenhaftigkeit zu zeigen, obwohl sie eigentlich „la Fée violente", die Gewalttätige ist, doch wozu sich um Rollencharakterisierung kümmern! Große Freude bereitet Ioanna Avraam als Fliederfee (La Fée des Lilas) mit nahezu königlicher Haltung und unnachahmlichem Port de bras. Natürlich gefällt auch Hyo-Jung Kang als Aurora, ein quirliges junges Ding, sicher auf der Spitze, im dritten Akt allerdings schon ein wenig müde. Daran mag auch Brendan Saye beteiligt sein, er ist mit der Rollte deutlich überfordert und auch nicht der passende Partner für die zierliche Erste Solotänzerin. Wie schön ein Paar ist, wenn beide auf gleichem Niveau tanzen, zeigen Kiyoka Hashimoto und Davide Dato (Blauer Vogel / Prinzessin Florine). Der heftige Applaus bekräftigte, dass dieser Pas de deux noch länger dauern hätte dürfen, vor allem die Solovariationen sind ganz schnell vorübergehuscht. Auch kleinere Rollen sind erwähnenswert: etwa Eszter Ledán und Marian Furnica als Katzenpaar, das nur an der Musik erkennbar ist, oder die Halbsolistin Iliana Chivarova mit dem Corpstänzer Trevor Hayden, die eine makellose „Diamant-Variation“ zeigen. Was mit dieser Einlage – eine Saphir-Variation, getanzt vom Corpstänzer Godwin Merano, verlängert ebenfalls den letzten Akt – ausgesagt werden soll, erschließt sich nicht. Vorgesehen hat Petioa Märchenfiguren als Divertissements des Hofes auf der Bühne und des jungen Publikums im Saal. Jetzt sind die Einlagen wederunterhaltsam noch märchenhaft.
Oft genug hat Choreograf Schläpfer betont, dass er das königliche Elternpaar für so wichtig hält, dass er ihre Rollen, die in den üblichen Aufführungen in würdigem Scheiten bestehen, aufwerten wird.
Das ist nicht gelungen, es mangelt an Einfällen, wie der gesamte dreieinhalbstündige Abend (inklusive zweier Pausen) ohne wirkliche Höhepunkte, ohne stringente Dramaturgie dahintreibt, gerettet nur von einigen exzellenten Tänzerinnen und Tänzern. Auch von Olga Esina und Masayu Kimoto. Gelegenheit haben sie allerdings nicht viel. Sie dürfen als Elternpaar ein kleines Tänzchen wagen, eine kleine Soloperformance geben und sich beim glanzlosen Hochzeitsfest im Walzertakt wiegen. Wie für all die anderen Auftretenden sind ihre Rollen nicht durch ein spezielles Bewegungsvokabular scharf gezeichnet, Esina und Kimoto tanzen irgendetwas, und das viel zu wenig. Verschwendung wertvoller Ressourcen! Erinnert man sich an die vollmundigen Ankündigungen, fühlt man sich betrogen.
Im Finale – keine Apotheose, das junge Ehepaar sitzt einsam in der Ecke und trollt sich dann durch den Hinterausgang – ist eine schon oft gesehene Szene aus Schläpfers Tanzvokabular zu sehen: Alle Anwesenden rücken eng zusammen, starren ins Publikum, ganz vorne, recht einsam auch, das Elternpaar. Diesmal ist das starre Arrangement ein Hochzeitbild ohne Brautpaar. Danach „erklingt eine weihevolle und ergreifende Melodie: der alte Königshymnus Vive Henri Quatre.“ (Zitat aus dem Booklet einer CD-Einspielung der Musik zu „The Sleeping Beauty“.) Immerhin sollte ja Petipas Choreografie auch dem Zaren gefallen. Heute passt diese pompöse Hymne nicht zum Tanz, ist veraltet und ohne Relevanz. Wenn Trompeten und Posaunen verklungen sind, löst sich die Gesellschaft allmählich auf, ein Teil bleibt untätig an der Rosenwand stehen, und jetzt, Achtung: Königin und König fallen stocksteif um, liegen mit den Köpfen zum Publikum flach und starr auf dem Boden, todmüde oder todtot, bis der Vorhang fällt. Fazit der jetzt doch staunenden Wienerin: „Då legst di nieder!“
Anhang
Rudolf Nurejew hat oft über "Dornröschen" nachgedacht, das Ballett auch mehrmals inszeniert. Einer seiner Gedanken, übersetzt aus dem Französischen:
Dornröschen von Tschaikowsky und Marius Petipa ist die vollkommene Vollendung des symphonischen Balletts. Die Choreografie muss mit Tschaikowskys Partitur in Einklang gebracht werden. Es geht nicht darum, mit Dornröschen ein Ereignis ohne Zukunft zu schaffen, sondern eine nachhaltige Aufführung zu produzieren, die die Exzellenz einer Kompanie unterstützt.
PS 2: Alexej Ratmansky hat sich intensiv mit den Choreografien Petipas beschäftigt und nach Aufzeichnungen fünf Ballette, darunter auch Dornröschen, akribisch rekonstruiert. Die New York Premiere hat das ABT im Mai 2015 in der Metropolitan Oper getanzt
Nun weiß er:
Diese Schritte sind so logisch und so modern. Und je mehr ich von Petipa lerne und seine Ballette studiere, desto mehr denke ich: Er ist der Beste aller Zeiten.
„Dornröschen“, Ballett in einem Prolog & drei Akten. Musik: Peter I. Tschaikowsky; Giacinto Scelsi. Libretto. Martin Schläpfer nach dem Märchen „La Belle au bois dormant“ von Charles Perrault, sowie nach Ivan Alexandrowitsch Wsewoloschski & Marius Petipa. Choreographie: Martin Schläpfer & Marius Petipa. (So liest man im Programmbuch.)
Musikalische Leitung: Patrick Lange, Bühne: Florian Etti; Kostüme: Catherine Voeffray, Licht & Video: Thomas Diek.
Wiener Staatsballett, Studierende der Ballettakademie, Orchester der Wiener Staatsoper. Premiere: 24. Oktober 2022.
Weitere Vorstellungen: wiener-staatsoper.at
Fotos: © Ashley Taylor / Wiener Staatsballett